Durchbrechung der Rechtskraft eines Vollstreckungsbescheides durch Widerruf gem. § 355 BGB?

Können sich Verbraucherïnnen von einem (Darlehens-)Vertrag lösen, indem sie die zum Vertragsschluss führende Erklärung gem. § 355 BGB widerrufen, auch wenn der Rückzahlungsanspruch der Bank bereits durch rechtskräftigen Vollstreckungsbescheid tituliert ist? Damit hat sich der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 03.03.2020 – XI ZR 486/17 befasst.

Sachverhalt

Die Klägerin wendet sich mit ihrer Vollstreckungsabwehrklage gegen die Vollstreckung der Beklagten Bank aus einem Vollstreckungsbescheid über eine Forderung aus einem Darlehensvertrag. Der Darlehensvertrag wurde am 22.01.2003 geschlossen, wobei die Beklagte eine unzulässige Widerrufsbelehrung verwendete. Am 18.12.2007 kündigte die Beklagte den Darlehensvertrag wegen Zahlungsverzugs und erwirkte gegen die Klägerin einen 2010 rechtkräftig gewordenen Vollstreckungsbescheid über eine Hauptforderung von 107.342,06 €. Mit Schreiben vom 25. Januar 2015 widerrief die Klägerin ihre auf Abschluss des Darlehensvertrags vom 22.01.2003 gerichtete Willenserklärung. Mit ihrer Vollstreckungsabwehrklage wendet sie sich gegen die Vollstreckung der Beklagten aus dem Vollstreckungsbescheid unter Berufung auf den Widerruf. Damit war die Klägerin in erster und zweiter Instanz erfolgreich.

Die beklagte Bank hatte hier im Mahnverfahren gegen die Klägerin einen Vollstreckungsbescheid i.S.d. § 700 ZPO erwirkt. Dieser war mangels Einspruchs (§§ 700 Abs. 1, 339 ZPO) rechtskräftig geworden. Die Klägerin beantragte im Wege der Vollstreckungsgegenklage gem. § 767 ZPO, die Zwangsvollstreckung aus dem Vollstreckungsbescheid für unzulässig zu erklären. Dazu berief sie sich auf denWiderruf ihrer zum Vertragsschluss führenden Willenserklärung. (Der Widerruf war mangels rechtmäßiger Widerrufsbelehrung nach altem Recht unbegrenzt möglich.) Dieses Begehren war im Grundsatz auch erfolgversprechend, weil mit dem Widerruf der Darlehensvertrag in ein Rückabwicklungsschuldverhältnis umgewandelt worden und damit der Rückzahlungsanspruch der Bank erloschen war. Damit stand ihr eine Einwendung gegen den im Urteil festgestellten Anspruch zu. Fraglich war aber, ob die Klägerin damit prozessual hier noch gehört werden konnte. Das war nämlich gem. §§ 796 Abs. 2, 767 Abs. 2 ZPO nur dann der Fall, wenn die Gründe, auf denen die Einwendung beruhte, nach Zustellung des Vollstreckungsbescheids entstanden waren und durch Einspruch nicht mehr geltend gemacht werden konnten. Dafür kam es darauf an, ob auf das Entstehen des Widerrufsrechts abzustellen war (dann war die Einwendung schon vor Rechtskraft des Vollstreckungsbescheids entstanden, nämlich mit dem Abschluss des Vertrages) oder auf die Erklärung/Ausübung des Widerrufs (dann war die Einwendung erst 2015 und damit nachträglich entstanden).

Entscheidung

Der XI. Zivilsenat hat die Entscheidung abgeändert und die Klage abgewiesen.

„Die Ausübung des Widerrufsrechts ist nach § 767 Abs. 2, § 796 Abs. 2 ZPO ausgeschlossen, weil die Klägerin den Widerruf am 25. Januar 2015 und damit erst nach Ablauf der gemäß § 700 Abs. 1, § 339 Abs. 1 ZPO bestehenden zweiwöchigen Frist zur Einlegung des Einspruchs gegen den Vollstreckungsbescheid vom 2. September 2010 erklärt hat, obwohl sie die Möglichkeit und Befugnis hatte, ihre auf Abschluss des Darlehensvertrags gerichtete Willenserklärung vor Ablauf der Einspruchsfrist zu widerrufen.

a) Nach 767 Abs. 2 ZPO können Einwendungen gegen einen durch Urteil festgestellten Anspruch nur dann mit der Vollstreckungsgegenklage geltend gemacht werden, wenn die Gründe, auf denen sie beruhen, erst nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung entstanden sind, in der Einwendungen hätten geltend gemacht werden müssen. Diese Regelung gilt gemäß § 795 Satz 1, § 794 Nr. 4 ZPO auch für – wie hier – in Vollstreckungsbescheiden festgestellte Ansprüche mit der Maßgabe, dass die Gründe, auf denen die Einwendungen beruhen, nach Zustellung des Vollstreckungsbescheides entstanden sein müssen und durch Einspruch nicht mehr geltend gemacht werden können (§ 796 Abs. 2 ZPO).

b) Bei Gestaltungsrechten ist zur Beantwortung der Frage, ob deren Ausübung nach § 767 Abs. 2 ZPO ausgeschlossen ist, nicht der Zeitpunkt der Gestaltungserklärung des Berechtigten maßgebend, sondern es ist auf den Zeitpunkt ihres Entstehens und der Befugnis zu ihrer Ausübung abzustellen (…).

Dies gilt auch für das Widerrufsrecht bei Verbraucherdarlehen nach § 495 Abs. 1, § 355 Abs. 1 und 2 BGB aF.

aa) Die Revision weist zu Recht darauf hin, dass das Widerrufsrecht nach § 495 Abs. 1, § 355 Abs. 1 und 2 BGB aF als Gestaltungsrecht konzipiert ist (…), da der zunächst wirksam zu Stande gekommene Vertrag durch den Widerruf des Verbrauchers (ex nunc) in ein Abwicklungsverhältnis umgestaltet wird (…). Danach tritt die materiell-rechtliche Wirkung des Widerrufs – die Umgestaltung des Darlehensvertrags in ein Abwicklungsverhältnis – zwar erst mit Abgabe der Widerrufserklärung Der Grund, auf dem die umgestaltende Wirkung beruht, entsteht jedoch bereits mit dem Zeitpunkt, in dem der Verbraucher erstmals die Möglichkeit hat, sein Widerrufsrecht auszuüben, und er die Rechtslage durch Abgabe der Gestaltungserklärung zu seinen Gunsten beeinflussen kann (…). Auf diesen Zeitpunkt ist im Rahmen der Anwendung der Präklusionsreglung des § 767 Abs. 2 ZPO grundsätzlich abzustellen.

bb) Entgegen einer im Schrifttum verbreiteten Ansicht (…) vermag auch der Zweck des nach § 495 Abs. 1, § 355 Abs. 1 und 2 BGB aF bestehenden Widerrufsrechts, den Verbraucher vor einer übereilten darlehensvertraglichen Bindung zu schützen (…), die Auffassung des Berufungsgerichts nicht zu rechtfertigen.

Der Verbraucher wird zwar, wenn der Darlehensgeber gegen ihn einen rechtskräftigen Vollstreckungstitel erwirkt hat, in seiner Freiheit eingeschränkt, den Darlehensvertrag gemäß § 495 Abs. 1, § 355 Abs. 1 und 2 BGB aF zu widerrufen, weil er mit der Ausübung seines Widerrufsrechts gemäß § 767 Abs. 2, § 796 Abs. 2 ZPO ausgeschlossen ist, wenn er hiervon nicht bereits im Vorprozess oder, wie hier, nicht innerhalb der Einspruchsfrist des § 700 Abs. 1, § 339 Abs. 1 ZPO Gebrauch gemacht hat.

Diese Einschränkung der nach materiellem Recht bestehenden Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers ist jedoch aufgrund des Zwecks des § 767 Abs. 2 ZPO gerechtfertigt. Dieser besteht darin, den rechtskräftigen Vollstreckungstitel in weitem Umfang vor nachträglichen Einwendungen des Schuldners zu schützen und die Hindernisse zu begrenzen, die der Vollstreckung aus diesem Titel bereitet werden können (…). Dadurch soll die materielle Rechtskraft der Entscheidung abgesichert werden (…).

Der durch § 767 Abs. 2 ZPO bezweckte Schutz rechtskräftiger Titel tritt insbesondere nicht deswegen ausnahmsweise zurück, weil der Verbraucher berechtigt ist, den Zeitpunkt der Widerrufserklärung nach seinem Belieben frei zu wählen, und das Widerrufsrecht an keine Voraussetzungen geknüpft ist (…). Denn das Widerrufsrecht nach § 495 Abs. 1, § 355 Abs. 1 BGB aF dient nicht dem Zweck, dem Berechtigten die Freiheit einzuräumen, den Zeitpunkt der Widerrufserklärung – etwa in Abhängigkeit von der Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse (…), insbesondere der Darlehenszinsen – zu wählen. Die Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers in zeitlicher Hinsicht ist lediglich eine Nebenfolge seines Widerrufsrechts. Dessen Sinn und Zweck ist es vielmehr, den Verbraucher vor einer übereilten Bindung an seine auf Abschluss des Darlehensvertrags gerichtete Willenserklärung zu schützen. Ihm soll deshalb bei Entscheidungen mit erheblicher wirtschaftlicher Bedeutung und Tragweite wie dem Abschluss eines Verbraucherdarlehensvertrags Gelegenheit gegeben werden, den Vertragsabschluss noch einmal zu überdenken (…).

cc) Auch eine etwaige Unkenntnis des Verbrauchers vom Bestehen seines Widerrufsrechts rechtfertigt es entgegen einer im Schrifttum vertretenen Auffassung (...) nicht, die Regelung der § 767 Abs. 2, § 796 Abs. 2 ZPO nicht anzuwenden. Denn für die Präklusionswirkung nach diesen Vorschriften kommt es auf den Zeitpunkt der Entstehung und nicht auf den der Ausübung des Gestaltungsrechts an (…).

Maßgebend ist danach, dass die Klägerin bis zum Ablauf der Einspruchsfrist objektiv die Möglichkeit hatte, den Widerruf zu erklären. Darauf, ob sie als Vollstreckungsschuldnerin ihre Einwendung nicht geltend machen konnte, weil sie sie nicht kannte, kommt es nicht an (…).“

Anmerkung

Und das ist insoweit konsequent, als der BGH bekanntlich bei sämtlichen Gestaltungsrechten auf das Entstehen des Gestaltungsrechts und nicht auf deren Ausübung abstellt (s. zur Aufrechnung kürzlich auch noch diesen Beitrag). Allerdings vertritt der BGH z.B. im Rahmen von § 531 Abs. 2 ZPO die Ansicht, erst nach Abschluss der ersten Instanz ausgeübte Gestaltungsrechte seien nicht nach § 531 Abs. 2 ZPO präkludiert, weil das Prozessrecht dazu dienen solle, das materielle Recht zu verwirklichen und nicht dessen Durchsetzung vermeidbar zu behindern. Von einer Vorlage an den EuGH hat der BGH übrigens mit der Begründung abgesehen, das Widerrufsrecht in § 355 BGB in der bis zum 10.06.2010 geltenden Fassung beruhe nicht auf einer europarechtlichen Vorgabe der damals geltenden Verbraucherkreditrichtlinie. Da der BGH im konkreten Fall zu einer überholten Rechtslage entschieden hat, dürfte der Fall nicht unmittelbar (also in Gestalt eines Verbraucherdarlehensvertrages) examensrelevant sein. Wählt man aber statt eines Darlehensvertrages z.B. einen Verbraucherbauvertrag gem. § 650i ff. BGB und das nach meiner Kenntnis nicht auf einer EU-Richtlinie beruhende Widerrufsrecht gem. § 650l BGB, bietet sich die Entscheidung wegen der teilweise geradezu „lehrbuchartigen“ Ausüfhrungen als Ausgangspunkt einer Klausur im zweiten Examen gerade zu an. Sie könnte deshalb ein Anlass sein, um sich (noch einmal) mit den zu § 767 Abs. 2 ZPO geltenden Grundsätzen vertraut zu machen (s. z.B: Thomas/Putzo/Seiler, § 767 Rn. 21 ff.). Angesichts der Vielzahl der abweichenden Stimmen in der Literatur wäre dabei eine abweichende Ansicht (allgemein bei Gestaltungsrechten und erst Recht beim verbraucherschützenden Widerrufsrecht) sicherlich ebenfalls gut vertretbar. tl;dr: Der Darlehensnehmer eines Verbraucherdarlehensvertrags ist gemäß § 767 Abs. 2, § 796 Abs. 2 ZPO mit seinem nach § 495 Abs. 1, § 355 Abs. 1 und 2 BGB in der bis zum 10. Juni 2010 geltenden Fassung bestehenden Widerrufsrecht ausgeschlossen, wenn die Bank nach Kündigung des Darlehensvertrages ihren Rückzahlungsanspruch in einem mit dem Einspruch nicht mehr anfechtbaren Vollstreckungsbescheid tituliert hat. Anmerkung/Besprechung, BGH, Versäumnisurteil vom 03.03.2020 – XI ZR 486/17. Foto: © Ehssan Khazaeli