Private Enforcement als Kernidee des kollektiven Rechtsschutzes

Der Vorstoß der Europäische Kommission, in Europa den kollektiven Rechtsschutz zu stärken, ist keineswegs revolutionär. Effektive private Rechtsdurchsetzung bildet das Fundament der kaum zu überschätzenden Erfolgsgeschichte einer europäischen ‚Rule of Law‘. Nur so war es dem Europarecht möglich, sich ohne übermächtigen Staatsapparat gegen die Interessen einzelner Mitgliedstaaten und besonders mächtiger Unternehmen durchzusetzen, die sich nicht an die gemeinsamen Regeln halten wollten. Das Recht des Einzelnen, geschützt von einem Verbund nationaler und europäischer Gerichte, steht seit Beginn der Europäischen Integration im Spannungsverhältnis zu scheinbar übermächtigen Interessen aus Politik und Wirtschaft. Nachdem der EuGH dies – im Rahmen seiner Möglichkeiten – über Jahrzehnte versucht hat, ist es nun am europäischen Gesetzgeber, auch an der wichtigen prozessrechtlichen Stellschraube des kollektiven Rechtschutzes zu drehen, um dem Einzelnen entgegenzukommen.

I. Einleitung

Wer den kollektiven Rechtsschutz stärkt, muss sich auch trauen, den Privaten das Recht in die Hand zu geben. Die Idee des kollektiven Rechtsschutzes basiert auf der Prämisse, dass die Geschädigten sich ihr Recht selbst holen, da der Staat nicht in der Lage und/oder nicht willens war, früher einzugreifen. In einem liberalen Staat sollte man sich einerseits damit abfinden, dass die öffentliche Durchsetzung des Rechts notwendigerweise unvollkommen ist. Andererseits bedeutet dies aber nicht, dass die hierdurch Geschädigten diesen Preis zu zahlen haben. Regulierungsversagen begründet einen nicht zu rechtfertigenden „moral hazard“, wenn es zulasten der ohnehin Geschädigten geht. Der Staat muss auch im Zivilprozessrecht daran arbeiten, dass Schädiger möglichst lückenlos zur Verantwortung gezogen werden. Nur so kann man erreichen, dass sich auch die größten und einflussreichsten Unternehmen an die Spielregeln halten, die staatlicher Regulierung naturgemäß häufiger entweichen können. Diese Grundsätze gehören zu der DNA der Europäischen Integration. Sie muss man mitdenken, wenn man den EU-Kommissionsvorschlag zur Schaffung eines europäischen, kollektiven Rechtsschutzes verstehen möchte.

II. Wenn es ums Prinzip geht

Wer als Schädiger eine unübersichtliche Zahl an Personen schädigt, wird in erster Linie immer darauf setzen, dass die Mehrheit dieser Personen sich nicht vor Gericht wehren wird. Das deutsche Prozessrecht setzt hier auch deutliche Anreize, indem eine Klage für wenige Euro eigentlich nie rational ist, da im Unterliegensfall die dann deutlich höheren Gerichts- und Anwaltskosten getragen werden müssen. Entsprechende Überzeugungstäter gibt es allerdings immer und das ist auch gut so. In Deutschland ist es zwar schwer, einen Fall mit geringer Beschwer überhaupt durch die Instanzen zu bekommen (vgl. nur jüngst die Diskussion zur Wertgrenze für die Nichtzulassungsbeschwerde). Dennoch gibt es auch hierzulande immer wieder spannende Fälle, die trotzdem ihren Weg zum BGH finden, wie etwa erst kürzlich der Fall einer Sparkassen-Kundin, die sich über die männliche Anrede in Formularen der Bank ärgerte. Rational ist dies nicht, aber revolutionäre Urteile waren wohl noch nie das Ergebnis anwaltlicher Vorsicht. Das Urteil hat nicht nur eine wichtige politische Debatte angeregt, sondern ist auch vom BGH für die amtliche Sammlung vorgesehen.

III. Die Helden des Europarechts

Auf EU-Ebene sieht es noch einmal anders aus: Der EuGH hat seine starke Stellung im europäischen Justizverbund nur erreichen können, indem er eine Allianz mit kleinen Gerichten der Mitgliedstaaten geschlossen hat. Diese hatten durch eine Vorlage an den EuGH nicht nur die Möglichkeit – zumindest mittelbar – ins Scheinwerferlicht wichtiger Rechtsfortbildung zu gelangen. Darüber hinaus kann die Amtsrichterin mit Hilfe des EuGH auch versuchen, eine unliebsame Rechtsprechung der ihr eigentlich übergeordneten Instanzen zu beseitigen. Während eine Vorlage an das BVerfG eherblichen Aufwand bedeutet und in der Regel zu einer Zurückweisung führt, empfängt der EuGH auch knapp begründete Vorabentscheidungsersuchen mit offenen Armen und dient häufig als Steigbügelhalter der europarechtlich bewanderten Amtsrichterin, um es ihren älteren Richterkolleginnen „mal zeigen“ zu können. Auch dem EuGH hilft es aber nichts, wenn er lediglich auf eine kooperationswillige Richterschaft zählen kann. Er braucht Privatpersonen, die sich auf das Europarecht berufen und zu diesem Zwecke klagen, damit es zu einer Vorlage kommen kann. Müsste sich der EuGH stets auf die Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren durch die Kommission verlassen, machte dies ihn und die Durchsetzung des Rechts von den politischen Zielen und Kompromissen der Kommission abhängig. Die Kommission hat auch überhaupt nicht das Personal, jeden Verstoß gegen das Europarecht zu verfolgen und in ein oder mehrere Vertragsverletzungsverfahren umzumünzen. Auf die mitgliedstaatlichen Verwaltungsbehörden kann sich die EU hier ohnehin nicht verlassen, da diese selbst häufig gegenläufige Interessen zur effektiven Durchsetzung des Europarechts haben. Am wenigsten ist hier eine Zuarbeit zu erwarten, wenn sich die Regeln gegen die Behörden selbst oder „nationale Champions“ richten. Deshalb ist die effektive Durchsetzung des Europarechts von jeher darauf angewiesen, dass einzelne Helden des Europarechts nach Luxemburg gehen. Dies ist bereits in der ersten großen Entscheidung des EuGH von 1962 angelegt. In van Gend & Loos heißt es:

„Die Wachsamkeit der an der Wahrung ihrer Rechte interessierten Einzelnen stellt eine wirksame Kontrolle dar, welche die durch die Kommission und die Mitgliedstaaten (...) ausgeübte Kontrolle ergänzt.“

Die Europäische Integration liest sich nicht nur wegen der benannten Fälle wie eine Parade der Querköpfe. Herr Costa, der in Costa/ENEL den Vorrang des Europarechts begründen ließ? Der klagte für umgerechnet weniger als 2 Euro (1.925 Lira). Auch das Bundesverfassungsgericht greift hier dem Europarecht unter die Arme. Per Kammerbeschluss gab es im Jahr 2016 einem österreichischen Beschwerdeführers Recht, der sich als Unionsbürger dadurch diskriminiert sah, dass ihm kein Rabatt auf seinen Schwimmbadbesuch im Jahr 2005 gewährt wurde. Diese Beispiele scheinen zunächst amüsant. Es fällt einem aber nicht schwer, sich die anderen Fälle vorzustellen, für die diese Integrationsgeschichte auch steht, bei denen es keinen Helden des Europarechts gab, wo weder jemand aus Prinzip klagen wollte, der Amtsrichter – wie im Fall des österreichischen Badegasts – nicht den EuGH für ein paar Euro anrufen wollte und es nicht – oder noch nicht – zu einer erfolgreichen Verfassungsbeschwerde kam. Der Weg, den das Europarecht seit den 1960er Jahren zu einer normativen Härtung hinter sich gelassen hat, ist wahrhaft revolutionär und lässt jedes internationale Rechtsgebilde vor Neid erblassen. Dieser Erfolg sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Normativität unseres Rechts und insbesondere des Europarechts stets fragil ist. Die Europäische Integration ist eben auch mit einer Vielzahl von Fällen gepflastert, die nie von einem Gericht entschieden wurden. Dies ist prinzipiell nicht Neues. Wenn aber die Diskrepanz zwischen Sein und Sollen im Alltag zu offensichtlich wird, helfen die großen, in den Vorlesungen rezipierten Urteile nicht mehr weiter, den Glauben an das Recht zu schützen. Das Recht muss alle schützen und nicht nur die Helden und Überzeugungstäter. Dem EuGH ist hier jedoch kein Vorwurf zu machen. Er hat immer versucht, dem Einzelnen die Berufung auf das Europarecht zu ermöglichen. Im Bereich der unmittelbaren Wirkung von Richtlinienbestimmungen ist er hier zwar immer wieder auf Widerstände gestoßen, was ihn jedoch nicht grundlegend von seinem Kurs abbringen konnte. Inzwischen dienen auch Grundrechte der effektiveren Berufung auf das Europarecht, zumindest dort, wo sie einigermaßen konkrete Ableitungen ermöglichen und nicht nur Grundsätze formulieren. In Zeiten, in denen die Begeisterung für das Europarecht in vielen Staaten zumindest unzuverlässig ist und in denen, wie insbesondere in Polen und Ungarn geschehen, auch die Justiz von nationalkonservativen Regierungen unter Druck gesetzt wird, ist es ein logischer Schritt, dass den Privaten mehr Macht gegeben wird. Der KOM-Vorschlag kommt hier genau zur richtigen Zeit. Den Bürgern stößt es zurecht auf, dass Bußgeldbescheide immer besser über alle Grenzen vollstreckt werden, aber der das Recht brechende Großkonzern allzu häufig unbehelligt bleibt. Dies ist nicht nur Verbrauchern gegenüber ungerecht, sondern benachteiligt auch die ganz überwiegende Zahl der rechtschaffenen Unternehmer, die sich allerdings weder vom Gesetzgeber der Musterfeststellungsklage noch vom KOM-Vorschlag bisher hinreichend berücksichtigt sehen. Denn die Opfer der scheinbar über dem Recht stehenden Schädiger sind häufig genug ebenfalls Unternehmen, deren Möglichkeiten der effektiven Rechtsdurchsetzung ohne kollektiven Rechtsschutz oft beschränkt sind und die womöglich noch im Wettbewerb mit den Unternehmen stehen, die es mit den Spielregeln nicht so genau nehmen.

IV. Private Rechtsdurchsetzung ernst genommen

Wer die enge Verbindung von privater Rechtsdurchsetzung und kollektivem Rechtsschutz verstanden hat, dem muss eigentlich klar werden, wie absurd die besonders eng gezogene Klagebefugnis für die Musterfeststellungsklage ist, die fast nur staatlich finanzierte Verbraucherzentralen im Blick hat. Zurecht verzichtet der Kommissionsentwurf auf solche Beschränkungen und will lediglich verhindern, dass finanzielle Interessenkonflikte dadurch entstehen, dass auf beiden Seiten dieselben Interessen vertreten sind (Art. 7). Nimmt man diesen Grundsatz ernst, dann muss die private Finanzierung einer kollektiven Klage die Regel sein. Eine von staatlicher Unterstützung abhängige Klagemöglichkeit, um Versagen der öffentlichen Hand auszubügeln, kann dagegen allenfalls die Ausnahme sein. Niemand hält sich seine Versäumnisse gerne selbst vor. Die Ausweitung des kollektiven Rechtsschutzes dient dem Schutz vor Allmachtsphantasien der Regulierungsbehörden und setzt Anreize dafür, dass sich auch diejenigen an die Spielregeln halten, die darauf hoffen können, dass der Staat ein Auge zudrückt. Dies kommt in der Diskussion über angeblich drohende Exzesse viel zu kurz und müsste eigentlich über alle Parteien hinweg konsensfähig sein. Prozessrecht ist zwar keineswegs unpolitisch. Die Gewährleistung des effektiven Zugangs zum Recht sollte aber mehrheitsfähig sein. Christopher Rother ist Managing Partner der Kanzlei Hausfeld Rechtsanwälte LLP in Berlin. Dr. Christopher Unseld, LL.M. (Michigan) ist ebendort als Rechtsanwalt tätig. Wenn Sie diesen Artikel verlinken wollen, können Sie dafür auch folgenden Kurzlink verwenden: www.zpoblog.de/?p=6547