BVerfG zum Prüfungsmaßstab bei Beurteilung der Erfolgsaussichten im PKH-Verfahren

In zwei jüngeren Beschlüssen (vom 28.10.2019 – 2 BvR 1813/18 und vom 29.11.2019 – 1 BvR 2666/18) hat das Bundesverfassungsgericht noch einmal bekräftigt bzw. konkretisiert, welche Maßstäbe bei der Beurteilung der Erfolgsaussichten im PKH-Prüfungsverfahren anzulegen sind. In den Entscheidungen ging es einerseits um die Grenzen einer Beweisantizipation und andererseits um die Schätzung der Höhe eines Schmerzensgeldes.

Sachverhalte

Im ersten Fall (2 BvR 1813/18) begehrte der Antragsteller Prozesskostenhilfe für eine auf § 839a BGB (Haftung des gerichtlichen Sachverständigen) gestützte Klage. Die weitere Beteiligte hatte ein forensisch-psychiatrisches Gutachten erstattet, auf dessen Grundlage die 1999 angeordnete Unterbringung des Antragstellers (§ 63 StGB) nicht für erledigt erklärt und nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde. Der Antragsteller warf der weiteren Beteiligten vor, ihr Gutachten enthalte unrichtige Tatsachenfeststellungen und Schlussfolgerungen und leide an schweren inhaltlichen und methodischen Mängeln. U.a. habe sie Checklisten nicht lege artis ausgewählt und angewendet, wie eine von ihm eingeholte Stellungnahme eines Prof. Dr. Dr. B. belege. Landgericht und Oberlandesgericht wiesen das PKH-Gesuch mangels Erfolgsaussichten zurück. Das Oberlandesgericht führte dabei in seinem Beschluss im Einzelnen aus, warum die Anwendung der Checklisten durch die weitere Beteiligte nicht unrichtig gewesen sei. Im zweiten Fall (1 BvR 2666/18) war die Antragstellerin im Rahmen von Protesten gegen einen Uranerztransport in Gewahrsam genommen worden, wo ihr ihr gegen ihren Willen ärztlich verordnete Gelenkschoner abgenommen wurden. Die Ingewahrsamnahme war rechtskräftig für rechtswidrig erklärt worden, das Bundesland zahlte ihr als Entschädigung für die rechtswidrige Freiheitsentziehung 100 EUR. Die Antragsgegnerin begehrte Prozesskostenhilfe für eine Klage gegen das Bundesland auf Zahlung weiterer 750 EUR und berief sich dabei u.a. darauf, dass ihr von den Polizeibeamten Schmerzen zugefügt worden seien, indem diese ihr trotz des vorgezeigten Schwerbehindertenausweises die ärztlich verordneten Gelenkschoner abgenommen hätten. Das Landgericht und das Oberlandesgericht wiesen das Prozesskostenhilfegesuch mangels Erfolgsaussichten zurück und begründeten dies damit, dass die Antragstellerin mit den 100 EUR angemessen und ausreichend entschädigt sei.

Prozesskostenhilfe gem. §§ 114 ff. ZPO ist eine besondere Form der Sozialhilfe (früher deshalb auch „Armenrecht“ genannt). Sie soll auch wenig bemittelten Personen gerichtlichen Rechtsschutz ermöglichen. Wird Prozesskostenhilfe bewilligt, wird die Partei (vereinfacht) von den Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) und den Gebühren eines ihr in der Regel beigeordneten Rechtsanwalts freigestellt; diese werden von der Staatskasse übernommen. Gem. § 114 ZPO setzt die Bewilligung von Prozesskostenhilfe neben der (nach sozialrechtlichen Grundsätzen zu ermittelnden, § 115 ZPO) Bedürftigkeit auch voraus, dass die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung Erfolg verspricht. Das hatten hier in beiden Fällen die Vorinstanzen mit den angegebenen Begründungen verneint. Dagegen wendeten sich jeweils die Antragsteller mit ihren Verfassungsbeschwerden und rügten, die Gerichte hätten dabei den im PKH-Prüfungsverfahren anzulegenden Maßstab für die Beurteilung der Erfolgsaussichten verkannt.

Entscheidungen

Die Kammern des BVerfG haben in beiden Fällen die Beschlüsse der Vorinstanzen aufgehoben. Soweit es um die Frage der Beweisantizipation geht, führt die zweite Kammer des zweiten Senats aus:

„a) (...) Die Prüfung der Erfolgsaussichten dient nicht dazu, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe, in dem nur eine summarische Prüfung stattfindet, zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen (…). Im Prozesskostenhilfeverfahren dürfen grundsätzlich keine strittigen Rechts- oder Tatsachenfragen geklärt werden (…).

Allerdings begegnet die Verweigerung von Prozesskostenhilfe keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist (…). Daher ist auch eine Beweisantizipation im Prozesskostenhilfeverfahren in begrenztem Rahmen zulässig. Die verfassungsgerichtliche Prüfung beschränkt sich in diesen Fällen darauf, ob konkrete und nachvollziehbare Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine Beweisaufnahme über die streitigen Tatsachen mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Beschwerdeführers ausgehen würde (…).

Kommt jedoch eine Beweisaufnahme ernsthaft in Betracht und liegen keine konkreten und nachvollziehbaren Anhaltspunkte dafür vor, dass die Beweisaufnahme mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Beschwerdeführers ausgehen würde, so läuft es dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit zuwider, dem Unbemittelten wegen fehlender Erfolgsaussichten seines Rechtsschutzbegehrens Prozesskostenhilfe zu verweigern (…).

b) Daran gemessen verletzen die Beschlüsse des Oberlandesgerichts (…) den Beschwerdeführer in seiner grundrechtlich geschützten Rechtsschutzgleichheit (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG).

Anders als in den sehr pauschal gehaltenen Ausführungen des Landgerichts befasst sich das Oberlandesgericht umfangreich mit den verschiedenen Vorwürfen des Beschwerdeführers, vornehmlich zur objektiven Unrichtigkeit des Gutachtens. Das Oberlandesgericht führt eine umfassende Prüfung der Einwendungen gegen die Richtigkeit des Gutachtens durch.

Hierbei erfolgt an zahlreichen Stellen eine Beweisantizipation, die nicht nur im Rahmen des Prozesskostenhilfeverfahrens zu beanstanden ist, sondern auch im Hauptsacheverfahren zu bemängeln wäre.

Insbesondere überschreitet das Oberlandesgericht seine Sachkompetenz dadurch, dass es im Beschluss vom 27. April 2018 umfassende Ausführungen zu den gerügten fehlerhaften Einschätzungen im Zusammenhang mit der PCL-R-Liste tätigt, deren Überprüfung die Hinzuziehung eines fachlich geeigneten Sachverständigen erfordert hätte. Gleiches gilt für die Bewertung der Einwendungen betreffend die Merkmale des VRAG und die Fehlerhaftigkeit der Anwendung des PCL-R und VRAG.

Eine Beweiserhebung wäre demnach ernsthaft in Betracht gekommen, deren Ergebnis offen sein dürfte.“

Zur Höhe des Schmerzensgeldes führt die dritte Kammer des ersten Senats aus:

„Der Beschluss des Landgerichts (…) verkennt hinsichtlich der Voraussetzungen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe den Gehalt des Rechts auf Rechtsschutzgleichheit und verletzt die Beschwerdeführerin dadurch in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. (…)

aa) Nach der in Rechtsprechung und Literatur zu § 114 Satz 1 ZPO weit überwiegenden Meinung hat ein Rechtsschutzbegehren im Rahmen einer bezifferten Schmerzensgeldklage in aller Regel dann hinreichende Aussicht auf Erfolg, wenn der verlangte Betrag noch vertretbar erscheint (…). Im Prozesskostenhilfeverfahren ist daher ein gedachter Rahmen zu bilden, in dem sich die richterliche Ermessensausübung im konkreten Fall bewegen kann. Erst wenn der Klageantrag, für den Prozesskostenhilfe begehrt wird, über diesen Rahmen hinausgeht, hat das Verfahren keine Aussicht auf Erfolg. Nur dann muss keine Prozesskostenhilfe gewährt werden.

Die abschließende Entscheidung, welche Umstände für die Bemessung des Schmerzensgeldes von Bedeutung sind, wie diese Umstände zu bewerten sind, und wie das Gericht dabei sein Ermessen ausübt, sind jedoch erst im Hauptsacheverfahren zu entscheiden. (...)

Das Hauptsacheverfahren eröffnet sowohl den Unbemittelten wie auch den Gegnern der jeweiligen Klage ungleich bessere Möglichkeiten der Entwicklung und Darstellung sowohl der Tatsachen wie auch des eigenen Rechtsstandpunktes. (…) Erst die vertiefte Erörterung im Hauptsacheverfahren eröffnet auch die Möglichkeit, die Rechtsauffassung, die ein Gericht zunächst entwickelt, zu überdenken. Zudem bestehen je nach Verfahrensart erst mit einem Hauptsacheverfahren auch Möglichkeiten, eine für die Antragstellenden günstige Entscheidung der Rechtsfrage durch ein Gericht höherer Instanz zu erreichen (…).

bb) Hier hat das Landgericht die Frage nach der im Ermessen stehenden Höhe des Schmerzensgeldes bereits im Prozesskostenhilfeverfahren „durchentschieden“. Es hat in der Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache ausgeführt, dass die Kammer die Höhe der bislang gezahlten Entschädigung in Höhe von 100,00 Euro nach Würdigung der vorgetragenen Umstände für angemessen und ausreichend halte. Die Kammer setzt sich insoweit mit Umständen auseinander, die für die Entscheidung über die Höhe des Schmerzensgeldes von Bedeutung sind; erkennbar ist jedoch nicht, dass angesichts unbestrittener erschwerender Umstände völlig außerhalb eines denkbaren Rahmens sei, ein höheres Schmerzensgeld als 100,00 Euro zu verlangen.

Damit hat das Landgericht die Frage nach der Höhe des angemessenen Schmerzensgeldes in das Nebenverfahren vorverlagert und der Beschwerdeführerin die Chance genommen, ihre Auffassung in der mündlichen Verhandlung und in einer zweiten Instanz weiter und nun anwaltlich unterstützt zu vertreten.“

Anmerkung

Und das ist in beiden Fällen nichts Neues, zeigt aber einmal mehr: Mit sorgfältig ausgearbeiteter Begründung lässt sich der Instanzenzug in Zivilsachen durchaus verlängern (s. dazu auch schon hier). Soweit es um die Höhe eines Schmerzensgeldes geht ist im Übrigen auch zu berücksichtigen, dass es der PKH-Partei gestattet sein muss, ein vergleichsweise hohes Schmerzensgeld zu fordern und sich so den sog. Ankereffekt zunutze zu machen (s. z.B. OLG Frankfurt, Beschluss vom 04.02.2019 - 8 W 48/17 m.w.N.).  Was allerdings dann bei mir wiederum Fragezeichen hinterlässt: Wie sehr BVerfG in eigener Sache andere Maßstäbe anzulegen scheint, wenn es wiederholt die Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren der Verfassungsbeschwerde ablehnt und scheinbar ernsthaft davon ausgeht, die meisten Bürger könnten ohne anwaltliche Hilfe eine Verfassungsbeschwerde ordnungsgemäß begründen (s. z.B. den Beschluss vom 28.10.2019 – 2 BvR 1813/18 oder den Beschluss vom 06.11.2019 – 2 BvR 1105/19). tl;dr: 1. Eine Beweisantizipation im Prozesskostenhilfeverfahren ist nur in begrenztem Rahmen zulässig. Hinreichende Erfolgsaussichten sind nur dann nicht anzunehmen, wenn konkrete und nachvollziehbare Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine Beweisaufnahme über die streitigen Tatsachen mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Antragstellers ausgehen würde. 2. Eine bezifferte Schmerzensgeldklage hat in aller Regel dann hinreichende Aussicht auf Erfolg, wenn der verlangte Betrag noch vertretbar erscheint. Dazu ist ein gedachter Rahmen zu bilden, in dem sich die richterliche Ermessensausübung im konkreten Fall bewegen kann. Erst wenn der Klageantrag über diesen Rahmen hinausgeht, hat das Verfahren keine Aussicht auf Erfolg. Anmerkung/Besprechung, BVerfG, Beschlüsse vom 28.10.2019 – 2 BvR 1813/18 und vom 29.11.2019 – 1 BvR 2666/18. Foto: Guido Radig Wikipedia auf Deutsch, Bundesverfassungsgericht - Karlsruhe, CC BY-SA 3.0 DE