Prozessuale Wahrheitspflicht und Selbstbezichtigungsfreiheit

wikimedia.org gemeinfreiDer Verdacht einer Straftat zieht neben einem Strafverfahren nicht selten auch zivilgerichtliche oder arbeitsgerichtliche Verfahren nach sich, z.B. wenn Schadensersatzansprüche geltend gemacht werden oder wenn sich der aufgrund des Verdachts Gekündigte gegen die Kündigung wehrt.

Ausgangslage

In diesen Fällen kollidieren zwei für die jeweilige Verfahrensordnung konstituierende Verfahrensgrundsätze miteinander: Die im Zivilprozess (und auch im Arbeitsgerichtsprozess) geltende Wahrheitspflicht und die strafprozessuale Selbstbezichtigungsfreiheit. Im Strafprozess muss sich der Betroffene nicht selbst belasten und daher keine Konsequenzen fürchten, wenn er die Unwahrheit sagt. Im Zivilprozess verpflichtet ihn § 138 ZPO, sich vollständig und wahrheitsgemäß zu erklären, anderenfalls droht im schlimmsten Falle eine Strafbarkeit wegen Prozessbetrugs.

Ist die Partei deshalb aber auch verpflichtet, sich über eine von ihr begangene Straftat vollständig und wahrheitsgemäß zu erklären? Oder darf sie diese in Abrede stellen bzw. dahingehenden Vortrag der Gegenseite bestreiten?

Das Bundesverfassungsgericht hat dazu in einem Beschluss vom 13.01.1981 – 1 BvR 116/77 (unter I.2.a.) beiläufig ausgeführt:

„Auch für den Zivilprozeß und entsprechende Verfahren ist anerkannt, daß die Wahrheitspflicht der Partei dort ihre Grenzen findet, wo sie gezwungen wäre, eine ihr zur Unehre gereichende Tatsache oder eine von ihr begangene strafbare Handlung zu offenbaren.“
Aber was heißt das praktisch?
Lösungsmöglichkeiten

Einigkeit besteht (wohl) noch darüber, dass der Entscheidung kein Recht zu entnehmen ist, sich im Zivilprozess ebenso wie im Strafverfahren folgenlos der Wahrheit zuwider zu erklären. Denn einerseits wäre ein solches Recht im deutschen Zivilprozessrecht ein absoluter Fremdkörper; das BVerfG wollte mit seiner Aussage aber schon der Wortwahl nach lediglich den status quo beschreiben. Und andererseits ist der Kontext dieser Ausführungen zu berücksichtigen: In der Entscheidung ging es nämlich gar nicht um einen Zivilprozess im klassischen Sinne, sondern um eine (im Ergebnis öffentlich-rechtliche) Auskunftspflicht aufgrund der Vorgängerregelung von §§ 20, 97 InsO und das BVerfG diskutiert in dem betreffenden Abschnitt dem Schuldner ggf. zustehende Schweigerechte. (Die Rechtslage ist inzwischen in § 97 Abs. 1 Sätze 2 und 3 InsO geregelt.)

Richtigerweise ist der Entscheidung daher allenfalls zu entnehmen, dass sich eine Partei im Zivilprozess nicht einer Straftat überführen muss, sondern auch schweigen darf (so Stein/Jonas/Leipold, 22. Aufl., § 138 Rn. 13). Ein solches Schweigerecht steht den Parteien im Zivilprozess aber ohnehin zu. Denn aufgrund des Beibrigungsgrundsatzes bestimmen sie selbst, welche Tatsachen sie in den Prozess einführen (§ 138 Abs. 1 ZPO). Und im Gegensatz zur Wahrheitspflicht i.e.S. ist die Pflicht, sich vollständig zu erklären, keine Pflicht im eigentlichen Sinne, sondern lediglich eine Obliegenheit (s. nur BeckOK-ZPO/von Selle, § 138 Rn. 2.1): Erklärt sich eine Partei über einen Umstand nicht, kann das aufgrund von § 138 Abs. 3 ZPO lediglich zur Folge haben, dass sie den Prozess verliert.

Die Frage nach einem Schweigerecht der Partei im Zivilprozess ist also schon falsch gestellt. Sie wird deshalb teilweise dahingehend ergänzt, dass ein Schweigen über Umstände, die den Verdacht einer Straftat begründen, nicht die Folge des § 138 Abs. 3 ZPO nach sich ziehen soll (so ausdrücklich OLG Düsseldorf, Urteil v. 02.03.2004 – 4 U 119/03 – juris, letzter Absatz; ähnlich wohl BAG, Urteil vom 20.11.2003 – 8 AZR 580/02). Das wirft – worauf das BAG zu Recht hinweist –  das unübersehbare Folgeproblem auf, wie dies im Einzelfall glaubhaft gemacht werden sollte.

Und im Übrigen ist die Ausgangslage im Zivilprozess eine völlig andere, so dass es verfassungsrechtlich gar nicht erforderlich ist, die Parteien im Zivilprozess vor einer Selbstbezichtigung zu schützen (ebenso Zöller/Greger, 30. Aufl. 2014, § 138 Rn. 3; Musielak/Stadler, ZPO, 12. Aufl. 2015, Rn. 3 aE; ausf. Stürner, Die Aufklärungspflichten der Parteien des Zivilprozeßes, 1976, S. 180 ff., 188 f.). Denn im Strafprozess, bei einer Vernehmung als Zeuge oder im Rahmen insolvenzrechtlicher Auskunftspflichten (s. die oben genannte Entscheidung des BVerfG) werden Personen durch hoheitlichen Zwang in ein Verfahren hineingezogen und zur Duldung bzw. sogar Mitwirkung verpflichtet. Ihnen werden daher als Ausgleich dafür in bestimmtem Umfang Schweigerechte eingeräumt. Im Zivilprozess bestimmen die Parteien hingegen selbst über den Streitgegenstand und damit über den Umfang ihres Sachvortrags (s. auch BeckOK-ZPO/von Selle, § 138 Rn. 13.1; Prütting/Gehrlein/Prütting, ZPO, 6. Aufl. 2015, § 138 Rn. 5). Soweit die Parteien dabei einem Zwang ausgesetzt sind, ist dieser nicht hoheitlicher, sondern allenfalls wirtschaftlicher Natur.

Die Selbstbezichtigungsfreiheit soll aber nur vor hoheitlichen oder hoheitlich vermittelten Eingriffen schützen, nicht Parteien aus ihrer wirtschaftlichen Not befreien.

Fazit

Der Selbstbezichtigungsfreiheit kommt im Zivil- und Arbeitsgerichtsprozess keine Bedeutung zu. Weder entbindet sie die Partei von der Pflicht, sich wahrheitsgemäß zu erklären, noch rechtfertigt sie eine Einschränkung von § 138 Abs. 3 ZPO.

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