(Kein) Sachverständigengutachten von Amts wegen (§ 144 ZPO)?
Entscheidung
Im „zweiten Anlauf“ hat der VIII. Zivilsenat die Revision zurückgewiesen:„Nachdem die Beklagte die von der Klägerin vorgetragene Wohnungsgröße von 92,54 qm unter Vorlage des Messergebnisses der einzelnen Räume und einer sich hieraus nach ihrer Berechnung ergebenden Wohnfläche von 80,674 qm substantiiert bestritten hatte, oblag es daher der Klägerin, Beweis für die Richtigkeit der von ihr behaupteten Größe der Wohnung anzutreten. Dies hat sie versäumt.
Die – anwaltlich vertretene – Klägerin hat im Termin zur mündlichen Berufungsverhandlung vom 19. August 2017 auf Nachfrage des Berufungsgerichts, ob sie die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Größe der Wohnfläche beantragen wolle, die Stellung eines solchen Beweisantrags ausdrücklich abgelehnt und auch kein anderes Beweismittel angeboten.
a) Das Berufungsgericht hat den in der wiedereröffneten Berufungsverhandlung erstmalig von der Beklagten gehaltenen substantiierten Vortrag einer um ca. 11 qm vom Klägervortrag abweichenden Wohnfläche zutreffend gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 2, § 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO als berücksichtigungsfähig zugelassen. Dies ist aus revisionsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden, wovon auch die Revision ausgeht. Denn es ist bereits nicht erkennbar, dass das Berufungsgericht die Voraussetzungen des § 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO unzutreffend beurteilt hätte. Zudem könnte nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs selbst eine fehlerhafte Berücksichtigung von neuem Tatsachenvortrag mit der Revision nicht mit Erfolg gerügt werden (…).
Damit oblag es der Klägerin, den Nachweis für die Richtigkeit der von ihr behaupteten Wohnfläche zu erbringen.
b) Entgegen der Auffassung der Revision war das Berufungsgericht nicht verpflichtet, den Vortrag der Beklagten zum Anlass zu nehmen, nach § 144 Abs. 1 Satz 1 ZPO von Amts wegen ein Sachverständigengutachten zur Ermittlung der tatsächlichen Wohnungsgröße einzuholen.
aa) Nach § 144 Abs. 1 Satz 1 ZPO kann zwar das Gericht auch ohne Antrag des Beweispflichtigen die Begutachtung durch Sachverständige anordnen. Die Anordnung steht dabei im pflichtgemäßen Ermessen und kann auch nur hinsichtlich der Ausübung des Ermessens vom Revisionsgericht überprüft werden (…). Durch die Möglichkeit, ein Gutachten von Amts wegen einzuholen, sind die Parteien aber nicht von ihrer Darlegungs- und Beweislast befreit (…). Dementsprechend ist ein Tatrichter, dem die erforderliche Sachkunde zur Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage fehlt und der davon absehen will, von Amts wegen gemäß § 144 ZPO sachverständige Hilfe in Anspruch zu nehmen, grundsätzlich nur gehalten, die beweisbelastete Partei auf die Notwendigkeit eines Beweisantrags nach § 403 ZPO hinzuweisen (…).
Die Revision, die den Tatrichter trotz Erteilung eines solchen Hinweises allgemein verpflichtet sieht, bei mangelnder eigener Sachkunde von Amts wegen einen Sachverständigen hinzuziehen, verkennt, dass die Durchführung des Zivilprozesses einschließlich der Beweiserhebung von dem Grundsatz der Parteiherrschaft geprägt wird. Grundsätzlich bestimmen die Parteien darüber, worüber und mit welchen Erkenntnismitteln Beweis erhoben werden soll (…).
Danach obliegt es in erster Linie der beweisbelasteten Partei – hier der Klägerin – beziehungsweise ihrem Prozessbevollmächtigten, selbst darüber zu entscheiden, welche Beweismittel angeboten werden. Dies gilt insbesondere bei der Einholung eines grundsätzlich mit einem höheren Kostenaufwand verbundenen Sachverständigengutachtens, wie hier eines solchen zur Ermittlung der tatsächlichen Wohnfläche der vermieteten Wohnung.
Vor diesem Hintergrund ist es regelmäßig nicht ermessensfehlerhaft, wenn der Tatrichter – wie auch im Streitfall – wegen des nach einem erteilten Hinweis auf die Erforderlichkeit eines entsprechenden Beweisantritts offen ausgesprochenen entgegenstehenden Willens der beweisbelasteten Partei von der amtswegigen Einholung eines Sachverständigengutachtens absieht (...).
Besondere Gründe, die eine abweichende Beurteilung rechtfertigen könnten, zeigt die Revision nicht auf.“
Anmerkung
Das zeigt zunächst sehr anschaulich, dass durch die Zurückverweisung die Berufungsverhandlung wiedereröffnet wird, so dass auch nach Aufhebung und Zurückverweisung neuer Vortrag (nur) im Rahmen der §§ 529, 531 ZPO berücksichtigungsfähig ist (so auch Rn. 21 der Entscheidung). Hinsichtlich des eigentlichen Kerns der Entscheidung – der Ermessensausübung im Rahmen von § 144 ZPO – ist die Entscheidung allerdings nur teilweise „ergiebig“. Denn wann das Gericht verpflichtet ist, sich auch ohne entsprechenden Antrag der Parteien den erforderlichen Sachverstand zu verschaffen, bleibt danach so unklar wie eh und je. Der VII. Zivilsenat hatte insoweit z.B. noch kürzlich die dem Gericht obliegende Aufklärungspflicht betont (Urteil vom 7.2.2019 – VII ZR 274/17 Rn. 19; für den Arzthaftungsprozess auch BGH, Urteil vom 19.2.2019 – VI ZR 505/17 Rn. 16). Allerdings gibt der Senat der Praxis mit der von ihm gebilligten Vorgehensweise der Vorinstanz ein in den meisten Fällen praktikables Procedere an die Hand (ähnlich z.B. Doukoff, Die zivilrechtliche Berufung, 6. Aufl. 2018 Rn. 576). Denn das Gericht ist zwar unzweifelhaft verpflichtet, den ihm unterbreiteten Sachverhalt so weit wie möglich aufzuklären und sich nicht vorschnell auf eine Beweislastentscheidung zurückzuziehen (so jüngst Urteil vom 7.2.2019 – VII ZR 274/17); eine Aufklärung des Sachverhalts gegen den Willen einer Partei ist aber mit dem Beibringungsgrundsatz nicht zu vereinbaren. Und die beweisbelastete Partei kann gute Gründe haben, einen Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht zu stellen, z.B. weil- das Gericht die Tatsache irrtümlich für beweisbedürftig hält (wie es hier die Klägerin – ebenfalls irrtümlich – annahm),
- das Gericht die Beweislast falsch beurteilt und von ihr daher zu Unrecht einen Vorschuss verlangt oder
- die Partei über die erforderliche Sachkunde verfügt um zu wissen, dass sie den Beweis nicht mittels Sachverständigengutachten führen kann.