(Kein) Sachverständigengutachten von Amts wegen (§ 144 ZPO)?

Ein Sachverständigengutachten einholen oder einen Augenschein einnehmen kann das Gericht gem. § 144 ZPO auch von Amts wegen, ohne einen entsprechenden Antrag der beweisbelasteten Partei. Wie das Gericht insoweit das ihm eingeräumte Ermessen ausüben kann, hat der Bundesgerichtshof nun mit Urteil vom 27.02.2019 – VIII ZR 255/17 näher konkretisiert.

Sachverhalt

Die klagende Vermieterin nahm die Beklagte auf Mieterhöhung in Anspruch und behauptete dabei, die Wohnung sei 92,54 qm groß. Die Beklagte bestritt diese Größe (einfach), was die Klägerin für nicht ausreichend substantiiert hielt. Amtsgericht und Landgericht hielten das einfache Bestreiten aber für zulässig und wiesen die Klage ab, weil die Klägerin mangels Beweisangebot beweisfällig geblieben sei. Auf die Revision hob der Bundesgerichtshof (Urteil vom 31.05.2017 – VIII ZR 181/16) das Berufungsurteil auf und verwies die Sache an das Landgericht zurück. Das einfache Bestreiten der Beklagten sei entgegen der Auffassung der Vorinstanzen nicht ausreichend und damit unbeachtlich – mit der Folge, dass der entsprechende Vortrag der Klägerin gem. § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden gelte. In der wiedereröffneten Berufungsverhandlung behauptete die Beklagte nun, die Wohnung sei 80,674 qm groß und legte eine entsprechende Berechnung vor. Die Klägerin stellte sich auf den Standpunkt, mit diesem Vortrag sei die Beklagte ausgeschlossen, da dieser nicht gem. § 531 Abs. 2 ZPO zuzulassen sei. Es bleibe daher bei der Folge des § 138 Abs. 3 ZPO. Einen Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens über die Wohnfläche stellte die Klägerin auf entsprechende Nachfrage des Gerichts ausdrücklich nicht. Das Landgericht hat die Klage daraufhin wiederum mit der Begründung abgewiesen, dass die Klägerin für die behauptete Wohnungsgröße beweisfällig geblieben sei. Die Geständniswirkung des § 138 Abs. 3 ZPO gleiche nicht derjenigen in § 290 ZPO, deshalb sei es der Beklagten unbenommen, die behauptete Wohnfläche nunmehr substantiiert zu bestreiten. Das entsprechende Vorbringen sei gem. § 531 Abs. 2 Satz 1 Ziff. 1 ZPO zuzulassen. Denn hätte das Berufungsgericht die Rechtsauffassung des BGH zugrunde gelegt, dass das Bestreiten unsubstantiiert sei, hätte es die Beklagte darauf hinweisen müssen. Dagegen wendete sich die Klägerin wiederum mit der Revision, mit der sie rügt, das Berufungsgericht habe den neuen Vortrag der Beklagten schon gar nicht zulassen dürfen. Jedenfalls aber habe das Gericht von Amts wegen gem. § 144 ZPO ein Sachverständigengutachten über die Wohnfläche einholen müssen.

Das Verfahren ist ein seltener Blick „hinter die Kulissen“, was mit einem Verfahren passiert, nachdem das Urteil des Berufungsgerichts vom BGH aufgehoben und zurückverwiesen wurde: Der BGH hatte in dem aufhebenden Urteil ausgeführt, mangels hinreichend substantiierten Bestreitens sei die von der Klägerin behauptete Wohnfläche gem. § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden anzusehen. Deshalb vertrat die Klägerin in der folgenden Verhandlung vor dem Landgericht die Auffassung, die Beklagte sei nun antragsgemäß zu verurteilen. Die Beklagte hatte aber nunmehr substantiiert zur Wohnungsgröße vorgetragen, was das Landgericht wegen § 531 Abs. 2 ZPO nicht für verspätet hielt. Es hatte die Klägerin deshalb darauf hingewiesen, dass sie nunmehr die behauptete Größe der Wohnung beweisen müsse. Das lehnte die Klägerin aber ab, weil sie davon ausging, ihr Vortrag gelte ohnehin gem. § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden. Nachdem das Landgericht die Klage nun wiederum wegen Beweisfälligkeit abgewiesen hatte, legte die Klägerin dagegen Revision ein und rügte einerseits, das Gericht hätte der Klage schon wegen § 138 Abs. 3 ZPO stattgeben müssen und den neuen Vortrag nicht zulassen dürfen, da die Voraussetzungen von § 531 Abs. 2 ZPO nicht vorlägen. Anderenfalls hätte es aber gem. § 144 Abs. 1 ZPO von Amts wegen ein Sachverständigengutachten einholen müssen.

Entscheidung

Im „zweiten Anlauf“ hat der VIII. Zivilsenat die Revision zurückgewiesen:

„Nachdem die Beklagte die von der Klägerin vorgetragene Wohnungsgröße von 92,54 qm unter Vorlage des Messergebnisses der einzelnen Räume und einer sich hieraus nach ihrer Berechnung ergebenden Wohnfläche von 80,674 qm substantiiert bestritten hatte, oblag es daher der Klägerin, Beweis für die Richtigkeit der von ihr behaupteten Größe der Wohnung anzutreten. Dies hat sie versäumt.

Die – anwaltlich vertretene – Klägerin hat im Termin zur mündlichen Berufungsverhandlung vom 19. August 2017 auf Nachfrage des Berufungsgerichts, ob sie die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Größe der Wohnfläche beantragen wolle, die Stellung eines solchen Beweisantrags ausdrücklich abgelehnt und auch kein anderes Beweismittel angeboten.

a) Das Berufungsgericht hat den in der wiedereröffneten Berufungsverhandlung erstmalig von der Beklagten gehaltenen substantiierten Vortrag einer um ca. 11 qm vom Klägervortrag abweichenden Wohnfläche zutreffend gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 2, § 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO als berücksichtigungsfähig zugelassen. Dies ist aus revisionsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden, wovon auch die Revision ausgeht. Denn es ist bereits nicht erkennbar, dass das Berufungsgericht die Voraussetzungen des § 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO unzutreffend beurteilt hätte. Zudem könnte nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs selbst eine fehlerhafte Berücksichtigung von neuem Tatsachenvortrag mit der Revision nicht mit Erfolg gerügt werden (…).

Damit oblag es der Klägerin, den Nachweis für die Richtigkeit der von ihr behaupteten Wohnfläche zu erbringen.

b) Entgegen der Auffassung der Revision war das Berufungsgericht nicht verpflichtet, den Vortrag der Beklagten zum Anlass zu nehmen, nach § 144 Abs. 1 Satz 1 ZPO von Amts wegen ein Sachverständigengutachten zur Ermittlung der tatsächlichen Wohnungsgröße einzuholen.

aa) Nach § 144 Abs. 1 Satz 1 ZPO kann zwar das Gericht auch ohne Antrag des Beweispflichtigen die Begutachtung durch Sachverständige anordnen. Die Anordnung steht dabei im pflichtgemäßen Ermessen und kann auch nur hinsichtlich der Ausübung des Ermessens vom Revisionsgericht überprüft werden (…). Durch die Möglichkeit, ein Gutachten von Amts wegen einzuholen, sind die Parteien aber nicht von ihrer Darlegungs- und Beweislast befreit (…). Dementsprechend ist ein Tatrichter, dem die erforderliche Sachkunde zur Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage fehlt und der davon absehen will, von Amts wegen gemäß § 144 ZPO sachverständige Hilfe in Anspruch zu nehmen, grundsätzlich nur gehalten, die beweisbelastete Partei auf die Notwendigkeit eines Beweisantrags nach § 403 ZPO hinzuweisen (…).

Die Revision, die den Tatrichter trotz Erteilung eines solchen Hinweises allgemein verpflichtet sieht, bei mangelnder eigener Sachkunde von Amts wegen einen Sachverständigen hinzuziehen, verkennt, dass die Durchführung des Zivilprozesses einschließlich der Beweiserhebung von dem Grundsatz der Parteiherrschaft geprägt wird. Grundsätzlich bestimmen die Parteien darüber, worüber und mit welchen Erkenntnismitteln Beweis erhoben werden soll (…).

Danach obliegt es in erster Linie der beweisbelasteten Partei – hier der Klägerin – beziehungsweise ihrem Prozessbevollmächtigten, selbst darüber zu entscheiden, welche Beweismittel angeboten werden. Dies gilt insbesondere bei der Einholung eines grundsätzlich mit einem höheren Kostenaufwand verbundenen Sachverständigengutachtens, wie hier eines solchen zur Ermittlung der tatsächlichen Wohnfläche der vermieteten Wohnung.

Vor diesem Hintergrund ist es regelmäßig nicht ermessensfehlerhaft, wenn der Tatrichter – wie auch im Streitfall – wegen des nach einem erteilten Hinweis auf die Erforderlichkeit eines entsprechenden Beweisantritts offen ausgesprochenen entgegenstehenden Willens der beweisbelasteten Partei von der amtswegigen Einholung eines Sachverständigengutachtens absieht (...).

Besondere Gründe, die eine abweichende Beurteilung rechtfertigen könnten, zeigt die Revision nicht auf.“

Anmerkung

Das zeigt zunächst sehr anschaulich, dass durch die Zurückverweisung die Berufungsverhandlung wiedereröffnet wird, so dass auch nach Aufhebung und Zurückverweisung neuer Vortrag (nur) im Rahmen der §§ 529, 531 ZPO berücksichtigungsfähig ist (so auch Rn. 21 der Entscheidung). Hinsichtlich des eigentlichen Kerns der Entscheidung – der Ermessensausübung im Rahmen von § 144 ZPO – ist die Entscheidung allerdings nur teilweise „ergiebig“. Denn wann das Gericht verpflichtet ist, sich auch ohne entsprechenden Antrag der Parteien den erforderlichen Sachverstand zu verschaffen, bleibt danach so unklar wie eh und je. Der VII. Zivilsenat hatte insoweit z.B. noch kürzlich die dem Gericht obliegende Aufklärungspflicht betont (Urteil vom 7.2.2019 – VII ZR 274/17 Rn. 19; für den Arzthaftungsprozess auch BGH, Urteil vom 19.2.2019VI ZR 505/17 Rn. 16). Allerdings gibt der Senat der Praxis mit der von ihm gebilligten Vorgehensweise der Vorinstanz ein in den meisten Fällen praktikables Procedere an die Hand (ähnlich z.B. Doukoff, Die zivilrechtliche Berufung, 6. Aufl. 2018 Rn. 576). Denn das Gericht ist zwar unzweifelhaft verpflichtet, den ihm unterbreiteten Sachverhalt so weit wie möglich aufzuklären und sich nicht vorschnell auf eine Beweislastentscheidung zurückzuziehen (so jüngst Urteil vom 7.2.2019 – VII ZR 274/17); eine Aufklärung des Sachverhalts gegen den Willen einer Partei ist aber mit dem Beibringungsgrundsatz nicht zu vereinbaren. Und die beweisbelastete Partei kann gute Gründe haben, einen Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht zu stellen, z.B. weil
  • das Gericht die Tatsache irrtümlich für beweisbedürftig hält (wie es hier die Klägerin – ebenfalls irrtümlich – annahm),
  • das Gericht die Beweislast falsch beurteilt und von ihr daher zu Unrecht einen Vorschuss verlangt oder
  • die Partei über die erforderliche Sachkunde verfügt um zu wissen, dass sie den Beweis nicht mittels Sachverständigengutachten führen kann.
Holt das Gericht trotzdem von Amts wegen gem. § 144 ZPO ein Sachverständigengutachten ein, kann es dies – ebenso wie z.B. ein Gutachten über die Prozessfähigkeit einer Partei im Rahmen von § 56 ZPO – zwar nicht gem. § 379 ZPO von einem Vorschuss der beweisbelasteten Partei abhängig machen; die Beweisaufnahme erfolgt daher zunächst auf Kosten der Staatskasse. Fällt die Beweisaufnahme aber zu Lasten der beweisbelasteten aus, fallen die entstandenen Kosten der beweisbelasteten Partei jedoch trotzdem zur Last, ohne dass sie sich dagegen nicht wehren kann. Deshalb wird es in der Regel sinnvoll sein, so vorzugehen, wie es hier die Vorinstanz getan hat oder jedenfalls auf einen Widerspruch der beweisbelasteten Partei von einer Beweiserhebung abzusehen. Erfolgt die Beweiserhebung ersichtlich gegen den Willen der beweisbelasteten Partei und bleibt erfolglos, dürften die Kosten gem. § 21 GKG nicht zu erheben sein. tl;dr: Es ist regelmäßig nicht ermessensfehlerhaft, wenn der Tatrichter, nachdem er zuvor auf die Erforderlichkeit eines entsprechenden Beweisantrags hingewiesen hat, wegen des offen ausgesprochenen entgegenstehenden Willens der beweisbelasteten Partei von der Einholung eines Sachverständigengutachtens von Amts wegen gem. § 144 Abs. 1 Satz 1 ZPO absieht. Anmerkung/Besprechung, BGH, Urteil vom 27.02.2019 – VIII ZR 255/17. Foto: Patricia Serna on Unsplash