Schriftsatznachlass im Zivil­prozess

Die Beantragung eines Schriftsatznachlasses begegnet den Beteiligten am Zivilprozess regelmäßig gegen Ende der mündlichen Verhandlung. Trotzdem werden die Voraussetzungen hierfür in der klausurorientierten Referendarausbildung kaum beleuchtet und – sicherlich nicht zuletzt auch aus diesem Grund – in der Praxis recht unterschiedlich gehandhabt. Der Beitrag gibt einen Überblick über die wesentlichen Konstellationen.

I. Einleitung

Die Gewährung eines Schriftsatznachlasses bzw. einer „Schriftsatzfrist“ kann sich unmittelbar aus dem Gesetz ergeben. Dies gilt, wenn in der mündlichen Verhandlung entweder neues Vorbringen des Prozessgegners (§ 283 S. 1 ZPO) oder ein richterlicher Hinweis (§ 139 Abs. 5 ZPO) dazu führt, dass sich eine hiervon überraschte Partei nicht erklären kann. Neben diesen Tatbeständen wird ein Schriftsatznachlass zum Zweck der Beweiswürdigung diskutiert.

II. Schriftsatzfrist für Erklärungen zum Vorbringen des Gegners, § 283 ZPO

Die Möglichkeit der schriftlichen Erklärung muss gem. § 283 S. 1 ZPO auf Antrag gewährt werden, wenn „sich eine Partei in der mündlichen Verhandlung auf ein Vorbringen des Gegners nicht erklären kann, weil es ihr nicht rechtzeitig vor dem Termin mitgeteilt worden ist“. Die Norm dient dazu, die Anberaumung eines Folgetermins zu vermeiden. Sie macht insofern sowohl eine Ausnahme vom Mündlichkeitsprinzip des § 128 Abs. 1 ZPO als auch von § 296a ZPO, nach dem Angriffs- und Verteidigungsmittel nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung grundsätzlich nicht mehr vorgebracht werden können. Klassischer Fall des § 283 ZPO ist ein im Termin übergebener Schriftsatz. Diese „verbreiteten Unsitte“ (Gaier, MDR 1997, 1093) ist möglich, weil nach erfolgter Klageerwiderung und hierauf folgender Replik des Klägers häufig keine Frist mehr für weitere Schriftsätze iSd § 277 ZPO gesetzt wird, sondern idR ein Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumt wird. Eine neuerliche Erwiderung ist daher nicht gem. § 296 Abs. 1 ZPO präkludiert. Kann der Gegner sich im Prozess hierzu nicht erklären, steht er ohne den Schriftsatznachlass vor dem Dilemma, dass der Vortrag des Gegners gem. § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden gilt.

1. Vorbringen des Gegners

Beim Vorbringen des Gegners iSd § 283 ZPO handelt nicht nur um die klassischen Angriffs- und Verteidigungsmittel wie Behauptungen, Bestreiten, Einwendungen, Einreden. Nach hM gilt die Norm auch für Anträge und Rechtsausführungen (etwa Prütting in MünchKommZPO, 2016, § 283 Rn. 9 mwN). Streitig ist, ob das Vorbringen entscheidungserheblich sein muss. Dies wird teilweise deshalb verneint, weil das Gericht eine Replik auf ein unerhebliches Vorbringen auch im Termin zur Kenntnis nehmen müsste (Reichold/Seiler in Thomas/Putzo, 2018, § 283 Rn. 2). Die hM will einen Schriftsatznachlass jedoch nur dann gewähren, wenn das Vorbringen entscheidungserheblich ist. Hierfür spricht das Interesse an einer zeitnahen Entscheidung eines bereits „ausgeschriebenen“ Rechtsstreits. Bereits abschließend vorgetragener Prozessstoff würde sonst nach der Verhandlung ohne Einfluss auf das Urteil unnötig aufgebläht (Greger in Zöller, ZPO, 32. Auflage 2018, § 283 Rn. 2a; Gaier, MDR 1997, 1093). Werden dann noch Fristverlängerungen iSd §§ 224, 225 ZPO gewährt, kann selbst unerheblicher Vortrag die Entscheidung in die Länge ziehen. Zwar ist dieses Szenario wegen der gem. § 283 S. 1 Hs. 2 ZPO gebotenen Terminsbestimmung zur Entscheidung nicht überzubewerten. Vorzugswürdig ist jedoch, die Entscheidungserheblichkeit des neuen Vorbringens im Termin zu prüfen und den Schriftsatznachass hiervon abhängig machen. Bemerkt das Gericht dann beim Abfassen des Urteils, dass der Vortrag doch relevant war, muss es die mündliche Verhandlung wiedereröffnen. Dieser Ansicht steht auch § 138 Abs. 3 ZPO nicht entgegen. Zwar gilt hiernach der Vortrag des Gegners als zugestanden. Dies wäre aber mangels Entscheidungserheblichkeit für das Urteil nicht von Belang.  Selbst wenn das Berufungsgericht dies anders sieht, kann die Gegenseite auch im Berufungsverfahren noch erwidern, denn gem. § 531 Abs. 2 Nr. 1 ZPO ist der Vortrag bzgl. eines Gesichtspunktes zuzulassen, der vom Gericht des ersten Rechtszuges erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten worden ist. Bestehen dagegen in der mündlichen Verhandlung Zweifel an der Entscheidungserheblichkeit, sollte im Lichte des Art. 103 Abs. 1 GG eher zugunsten eines Schriftsatznachlasses entschieden werden (vgl. auch § 156 Abs. 2 Nr. 1 ZPO).

2. Keine Rechtzeitigkeit

Das Vorbringen des Gegners darf nicht rechtzeitig vor dem Termin mitgeteilt worden sein. Von Rechtzeitigkeit ist idR dann auszugehen, wenn die Wochenfrist des § 132 Abs. 1 ZPO eingehalten wurde. Dies wird ausnahmsweise dann für zu knapp gehalten, wenn trotz Einhaltung der Wochenfrist ein Verstoß gegen § 282 Abs. 2 ZPO vorliegt (Saenger in Saenger, ZPO, 2017, § 283 Rn. 4 mwN). Hiernach sind Angriffs- und Verteidigungsmittel so zeitig mitzuteilen sind, dass der Gegner die erforderlichen Erklärungen noch einzuholen vermag. Dies ist anhand der konkreten Umstände zu beurteilen. Trägt beispielsweise in einem Prozess über hochtechnologische Produkte eine Partei substanziiert zu technischen Details vor, kann die Wochenfrist des § 132 Abs. 1 ZPO kaum ausreichen, um einen angemessenen Gegenvortrag auszuarbeiten.

3. Unmöglichkeit der Erklärung

Ob sich die überraschte Partei auf das Vorbringen im Prozess nicht erklären kann, entscheidet das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen. Die Partei hat also keinen gebundenen Anspruch auf Einräumung einer Schriftsatzfrist. Es wird insbesondere geprüft, ob die Unmöglichkeit der Erwiderung tatsächlich auf dem neuen Vorbringen beruht oder ob die gleiche Erklärung nicht ohnehin früher hätte gegeben werden können. Denkbar ist auch, dass eine Partei trotz persönlichen Erscheinens und Kenntnis aller Umstände aus taktischen Gründen eine Gegenerklärung verweigert. Auch dann kann das Gericht den Antrag auf Schriftsatznachlass zurückweisen.

4. Anwendbarkeit auf mündliches Vorbringen

In der Praxis wird ein Schriftsatznachlass teilweise auch dann gewährt, wenn eine Partei erst im Termin mündlich neue Tatsachen vorträgt (Schäfer, NJW 2013, 654 [655 f.]). § 283 ZPO ist hier zutreffend ebenfalls anzuwenden. Es kann keinen Unterschied machen, ob der neue Vortrag schriftlich oder mündlich erfolgt.

5. Vortrag im nachgelassenen Schriftsatz

Wird ein Schriftsatznachlass schließlich gewährt, kann sich die überraschte Partei bis zur gesetzten Frist zum Vorbringen des Gegners erklären. § 283 S. 2 ZPO bestimmt hierzu, dass dieses Vorbringen bei fristgemäßer Einreichung berücksichtigt werden „muss“, bei verspäteter Einreichung nach dem Ermessen des Gerichts berücksichtigt werden „kann“. Trägt eine Partei im nachgelassenen Schriftsatz über die Erwiderung hinaus neue Tatsachen vor, können diese gem. § 296a ZPO unberücksichtigt bleiben. Der Tenor zum Schriftsatznachlass sollte daher zur Klarstellung die Einschränkung „auf neues Vorbringen“ und ggf. eine Einschränkung des Tatsachenkomplexes enthalten (s.u.). § 296a ZPO findet jedoch keine Anwendung, wenn die Reaktion eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung gem. § 156 ZPO – zB wegen einer notwendigen Beweiserhebung – erfordert (Foerste in Musielak/Voit, ZPO, 2018, § 283 Rn. 12; etwas missverständlich insofern BGH BeckRS 2012, 04075).

6. Prozessuale Handhabung und Rechtsmittel

Der Tenor bei der Stattgabe eines Antrages nach § 283 ZPO kann folgendermaßen lauten:

b. u. v.:

1. Dem Beklagten wird nachgelassen, auf neues Vorbringen [bzgl. Tatsachenkomplex A] im Schriftsatz des Klägers vom … bis zum … zu erwidern. 2. Termin zur Verkündung einer Entscheidung wird bestimmt auf ...
Wird der Antrag abgelehnt, muss in den Entscheidungsgründen des Urteils auf den Antrag eingegangen und die Ablehnung begründet werden. Die Ablehnung ist nicht mit einer Beschwerde angreifbar, weil sie im Gesetz nicht vorgesehen ist und die Entscheidung aufgrund mündlicher Verhandlung ergeht, § 567 Abs. 1 Nr. 2 ZPO. Sie kann aber Berufungsgrund sein sowie unterhalb der Schwelle des § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO ein Rügegrund iSd § 321a ZPO. Gewährt das Gericht einen Schriftsatznachlass ohne die vorliegenden Voraussetzungen ist es hieran gebunden. Der Gegenseite steht dagegen kein Rechtsmittel zu.

7. Fluchtmöglichkeiten

Gewährt das Gericht keinen Schriftsatznachlass, bestehen jedoch trotz der Regelung des § 296a S. 1 ZPO Möglichkeiten, mit neuem Vortrag Gehör zu finden. Das Gericht hat nämlich gem. § 296a S. 2 ZPO unter den Voraussetzungen des § 156 ZPO die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung anzuordnen. Dies ist zB dann der Fall, wenn so erhebliche neue Tatsachen vorgetragen werden, dass deren Nichtberücksichtigung den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzten würde (näher Fritsche in MünchKommZPO, 2016, § 156 Rn. 5, 11). Sämtliche nachträglich eingereichten Schriftsätze müssen mithin auf solches Vorbringen überprüft werden. Ferner gilt § 296a ZPO nicht für Rechtsansichten. Diese müssen bis zur Entscheidung berücksichtigt werden. Auch für neue Anträge (zB Widerklage, Klageerweiterung) gilt die Norm nicht. Dies verleitet zu dem Gedanken, dass neuer Vortrag dann berücksichtigt werden kann, wenn gleichzeitig ein neuer Antrag gestellt wird. Anerkannt ist dies zwar als gängiger Fluchtweg aus § 296 Abs. 1, 2 ZPO im Termin (hierzu im Blog Windau, Fluchtwege aus der Verspätungsfalle). Allerdings dürfen derartige Anträge nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung nicht mehr gestellt werden. Dies ergibt sich nach hM aus dem Umkehrschluss von §§ 256 Abs. 2, 261 Abs. 2, 297 ZPO (BGH NJW-RR 1992, 1085). Wird also vom Gericht kein Schriftsatznachlass gewährt, besteht also auch mit dieser „Fluchtmöglichkeit“ keine Gelegenheit mehr zu neuem Vortrag oder zur Erwiderung.

III. Schriftsatzfrist für Erklärungen zum einem gerichtlichen Hinweis, § 139 Abs. 5 ZPO

Ein Schriftsatznachlass kann gem. § 139 Abs. 5 ZPO auch dann gewährt werden, wenn einer Partei eine sofortige Erklärung zu einem gerichtlichen Hinweis nicht möglich ist. Die übrigen Voraussetzungen entsprechen im Wesentlichen denen des § 283 ZPO. Dieser wurde bis zur Einführung des § 139 Abs. 5 ZPO analog auf richterliche Hinweise angewendet (Stadler in Musielak/Voit, ZPO, 2018, § 139 Rn. 29). In Literatur und Rechtsprechung wird zurecht darauf hingewiesen, dass das Gericht in Erfüllung seiner prozessualen Fürsorgepflicht gem. § 139 Abs. 4 ZPO Hinweise auf entscheidungserhebliche Umstände grundsätzlich so früh wie möglich zu erteilen hat. Dass diese Vorgehensweise nicht immer möglich ist, liegt auf der Hand. Es ist nicht unüblich, dass eine tiefergehende Vorbereitung erst kurz vor dem Termin möglich ist, sei es durch hohes Arbeitsaufkommen oder durch späte Schriftsätze der Parteien. Ferner gibt es Fälle, in denen beide Parteien die entscheidungserhebliche Norm ausweislich ihrer Schriftsätze erkennbar übersehen. Ein Gericht kann dies in der mündlichen Verhandlung zur Anregung von Vergleichsgesprächen ausnutzen. § 139 Abs. 5 ZPO hat daher durchaus einen eigenen Anwendungsbereich. Weist das Gericht in der mündlichen Verhandlung auf entscheidungserhebliche Umstände hin, die die betroffene Partei bislang für unwichtig gehalten hat, muss ihr auf Antrag Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme gegeben werden. Ist offensichtlich, dass sich eine Partei in der mündlichen Verhandlung nicht abschließend erklären kann, muss das Gericht sogar ohne Antrag in das schriftliche Verfahren (§ 128 Abs. 2 ZPO) übergehen oder die mündliche Verhandlung vertagen, um Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben (BGH NJW-RR 2013, 1358). Eine sofortige Erklärung ist insbesondere dann nicht zu erwarten, wenn der allein erschienene Prozessvertreter bei der Partei nachfragen muss. Auch das persönliche Erscheinen einer Partei gewährleistet nicht zwangsläufig eine sofortige Erklärung. Vom Geschäftsführer einer GmbH ist beispielsweise mehrere Jahre nach dem streitgegenständlichen Bauvorhaben nicht zu erwarten, dass er in der mündlichen Verhandlung zu jedem Aspekt der Durchführung detailliert Stellung nimmt (so BGH NJW-RR 2013, 1358). Gewährt das Gericht einen Schriftsatznachlass, ohne eine Frist zu setzen, darf sich die Partei gleichwohl nicht ewig Zeit lassen. Sie ist vielmehr gem. § 282 Abs. 1 ZPO gehalten, so rechtzeitig Stellung zu nehmen, wie es nach der Prozesslage einer sorgfältigen und auf die Förderung des Verfahrens bedachten Prozessführung entspricht (BGH NJW 2007, 1887).

IV. Schriftsatzfrist zur Stellungnahme bzgl. der Beweisaufnahme

Beide Parteien haben in der Regel Interesse daran, zu langwierigen und umfassenden Beweisaufnahmen Stellung zu nehmen. Das Gesetz sieht eine diesbezügliche Schriftsatzfrist jedoch nicht vor. Den Parteien ist gleichwohl unbenommen, dem Gericht ihr Ergebnis der Beweiswürdigung mitzuteilen, da es sich hierbei um bloße Rechtsansichten handelt, für die § 296a ZPO nicht gilt. Komplizierter ist der Fall, wenn sich aus der Beweisaufnahme neue Tatsachen ergeben, die ihrerseits neue Beweisangebote erfordern. Solche Anträge sind grundsätzlich nur in der mündlichen Verhandlung möglich, §§ 279 Abs. 3, 285 ZPO (BGH BeckRS 2012, 04075). Ist die Beweisaufnahme jedoch so umfassend und komplex, dass eine Reaktion an Ort und Stelle nicht erfolgen kann, gebietet Art. 103 Abs. 1 GG gleichwohl einen Schriftsatznachlass. Dies ist beispielsweise bei einem ausführlichen medizinischen Sachverständigengutachten der Fall (näher Schäfer, NJW 2013, 654).

V. Zusammenfassung

Schriftsatznachlass wegen Vorbringen des Gegners, § 283 S. 1 ZPO (Regelfall: im Termin übergebener Schriftsatz)
  • Entscheidungserhebliches (str.) schriftliches oder mündliches Vorbringen einer Partei.
  • Keine Einhaltung der Wochenfrist des § 132 Abs. 1 ZPO oder – im Ausnahmefall – Verspätung gem. § 282 Abs. 2 ZPO.
  • Keine Möglichkeit der Erwiderung durch die überraschte Partei.
Schriftsatznachlass wegen spätem gerichtlichen Hinweis, § 139 Abs. 5 ZPO
  • Rechtlicher Hinweis des Gerichts entgegen der prozessualen Fürsorgepflicht des § 139 Abs. 4 ZPO erst im Termin.
  • Keine Möglichkeit der Stellungnahme durch die überraschte Partei.
Schriftsatznachlass zum Zweck der Beweiswürdigung, Art. 103 Abs. 1 GG
  • Sofortige Stellungnahme in der mündlichen Verhandlung aufgrund der Komplexität des Beweisthemas nicht möglich.
Dr. Christopher Weidt ist Rechtsreferendar am LG Dortmund und Lehrbeauftragter an der Universität Siegen. Wenn Sie diesen Artikel verlinken wollen, können Sie dafür auch folgenden Kurzlink verwenden: www.zpoblog.de/?p=6556 Foto: Balthasar Schmitt User:Waugsberg | Justitia Justizpalast Muenchen | CC BY-SA 3.0