Hohes Alter eines Zeugen als drohender Beweismittelverlust?
- Gem. § 485 Abs. 2 ZPO kann ein schriftliches Sachverständigengutachten einhgeholt werden, wenn eine Partei ein rechtliches Interesse daran hat, dass der Zustand einer Person oder der Zustand oder Wert einer Sache, die Ursache eines Personenschadens, Sachschadens oder Sachmangels oder der Aufwand für die Beseitigung eines Personenschadens, Sachschadens oder Sachmangels festgestellt wird. Als rechtliches Interesse reicht es dabei gem. Abs. 2 Satz 2 ZPO aus, dass damit ggf. ein Rechtsstreit vermieden werden kann.
- Demgegenüber eröffnet § 485 Abs. 1 ZPO die Möglichkeit eines selbständigen Beweisverfahrens, wenn entweder der Gegner zustimmt oder aber ein besonderes Beweissicherungsinteresse besteht, weil zu besorgen ist, dass das Beweismittel verloren geht oder seine Benutzung erschwert wird.
Entscheidung
Das OLG Hamm (Alter der Zeugin: 83 Jahre) hat den Antrag für zulässig gehalten:„Das im Rahmen des § 485 Abs. 1 ZPO erforderliche Beweisverlustrisiko, welches vorliegen muss, solange der Gegner nicht zustimmt, ist (…) gegeben. Voraussetzung insoweit ist, dass die Besorgnis besteht, dass das Beweismittel verloren geht oder seine Benutzung erschwert wird. Sofern das Landgericht (…) dies verneint, vermag sich der Senat dieser Auffassung nicht anzuschließen.
Denn es ist anerkannt, dass das hohe Alter eines Zeugen die Besorgnis begründet, dass das Beweismittel verloren geht oder eine erschwerte Benutzung desselben eintritt und damit die Sicherung des Beweises durch ein selbständiges Beweisverfahren gerechtfertigt ist (…).
Die Zeugin, deren Vernehmung im Beweisverfahren begehrt wird, ist am 00.00.1937 geboren und steht damit unmittelbar vor der Vollendung des 83. Lebensjahres. Bei Menschen, die in einem gegenüber der gewöhnlichen Lebensdauer sehr hohen Alter stehen (in Deutschland ist derzeit die durchschnittliche Lebenserwartung von Frauen 83 Jahre (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/273406/umfrage/entwicklung-der-lebenserwartung-bei-geburt--in-deutschland-nach-geschlecht/) ist nämlich sowohl die Gefahr eines plötzlichen und unerwarteten Todes als auch die Möglichkeit einer schweren Erkrankung, wie Schlaganfall oder dergleichen, auch ohne erkennbare Krankheit gegeben, was dazu führt, dass der unvermittelte Verlust des Beweismittels in der Zukunft oder aber die Erschwerung der Benutzung des Beweismittels nicht selten sind (…).
Vorliegend gilt diese Erwägung umso mehr, als die Zeugin in der gegenwärtigen Corona-Pandemie als knapp 83-Jährige zu einer Risikogruppe zählt, bei der das Risiko schwerer Verläufe wesentlich größer ist. Die Frage, ob bei der Zeugin ein Grund zur Besorgnis im Sinne des § 485 Abs. 1 ZPO vorliegt, kann daher nach Auffassung des Senats nur positiv beantwortet werden.“
Das Kammergericht (Alter des Zeugen: 77 Jahre) hat den Antrag hingegen zurückgewiesen:„Mangels Zustimmung des Beklagten setzt die Anordnung eines selbständigen Beweisverfahrens gemäß § 485 Abs. 1 ZPO voraus, dass zu besorgen ist, dass das Beweismittel verloren geht oder seine Benutzung erschwert wird. Die Besorgnis des Zeugenbeweisverlustes kann im Einzelfall im Hinblick auf das hohe Alter eines potentiellen Zeugen als alleinige Zulässigkeitsvoraussetzung – also ohne Hinzutreten besonderer Umstände wie das Vorliegen von Erkrankungen – ausreichen (…).
Als „hohes Alter“ in diesem Sinne kommt indes nur ein fortgeschrittenes Lebensalter in Betracht. Von einem solchen ist auszugehen, wenn der potentielle Zeuge die durchschnittliche Lebenserwartung bezogen auf die Lebenserwartung im Zeitpunkt seines 65. Geburtstages deutlich überschritten hat (…).
Hieran fehlt es. Der heute 77 Jahre alte potentielle Zeuge Sch. hatte zum Zeitpunkt seines 65-jährigen Geburtstags 2007/2008 nach den Feststellungen des Statistischen Bundesamtes eine Lebenserwartung von weiteren 17,22 Jahren (...). Diese durchschnittliche Lebenserwartung erreicht der potentielle Zeuge Sch. erst in ca. fünf Jahren, so dass bei ihm noch nicht von einem „hohen Alter“ im oben genannten Sinne auszugehen ist (…).
Andere Umstände, die einen Verlust des Zeugenbeweises wahrscheinlich erscheinen lassen, sind nicht ersichtlich. Die von den Klägern in Bezug genommenen „Herzprobleme“ des Zeugen sind schon nach ihren Einschätzungen unsubstantiiert.“