Teilnahme an Videoverhandlungen aus Privaträumen unzulässig?

Mit Beschluss vom 16. Juni 2021 – L 13 R 201/20 – hat das Bayerische Landessozialgericht den Antrag eines Klägers auf Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung gem. § 110a SGG (= 128a ZPO) abgelehnt. Zur Begründung führt das LSG aus, die Bild- und Tonübertragung in die Privatwohnung eines Verfahrensbeteiligten scheide regelmäßig aus, weil dort das Verbot der Aufzeichnung der Übertragung nicht durchsetzbar sei. Diese Entscheidung bedarf näher Betrachtung, weil sich die Überlegungen hinsichtlich nahezu sämtlicher Verfahrensordnungen verallgemeinern ließen, weil die prozessrechtlichen Vorschriften weitgehend identisch sind. Damit würde der Anwendungsbereich von Videoverhandlungen erheblich eingeschränkt.

Sachverhalt und Entscheidung

Der Kläger hätte, um persönlich an der Verhandlung teilnehmen zu können, aus seinem Wohnort in Österreich anreisen müssen. Dies wollte er aufgrund der pandemischen Lage vermeiden, weil er das Ansteckungsrisiko im öffentlichen Nahverkehr fürchtete. Er zähle zwar nicht aus gesundheitlichen Gründen, aber aufgrund seines Alters – er ist 69 Jahre alt – zur Risikogruppe. Deshalb hatte er beantragt, an der Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung teilzunehmen. Das lehnte das LSG mit der eingangs genannten Begründung ab. Hinzu kamen noch zwei weitere Umstände, auf die das Gericht seine Entscheidung ebenfalls stützte, nämlich dass der Fall bereits einmal vertagt worden war und der Kläger sich schon zwei Wochen vor der mündlichen Verhandlung über seine Tochter zwar telefonisch über die Möglichkeit einer Teilnahme per Videokonferenz informiert, einen schriftlichen Antrag aber erst zwei Tage vor der Verhandlung gestellt hatte. Und dass der Kläger im gesamten Verfahren durch seine Tochter unterstützt worden war und der Senat deshalb mangels anderweitigem Vortrag des Klägers unterstellte, dass die Tochter für den Kläger den Termin hätte wahrnehmen können.

Anmerkung

Etwas sehr gewollt wirkt bereits das Argument des Bayrischen LSG, der Kläger habe durch die Kurzfristigkeit seiner Antragstellung bereits vereitelt, rechtzeitig die notwendigen technischen und organisatorischen Voraussetzungen auf Seiten des Klägers zu klären. Denn da der Einladungslink in der gerichtlichen Praxis je nach eingesetzter Videokonferenztechnik ohnehin mittels E-Mail versandt wird, hätten darin auch die technischen und organisatorischen Hinweise übermittelt werden können – der Datenschutz spricht sicher nicht dagegen, enthalten solche Hinweise doch keine schutzwürdigen Daten. Abzulehnen ist aber vor allem die Rechtsauffassung des Senats, eine Videokonferenz scheide bereits deshalb aus, weil der Kläger von zu Hause aus an der Verhandlung teilnehmen wollte. Hiergegen spricht insbesondere nicht das Verbot, die Videokonferenz aufzuzeichnen (§ 110a Abs. 3 Satz 1 SGG = § 128a Abs. 3 Satz 1 ZPO). Diese Gefahr besteht nämlich nicht nur bei Verhandlungen per Videokonferenz. In Zeiten, in denen praktisch jeder im Gerichtssaal mindestens ein Smartphone mit sich trägt hat, besteht das Risiko der Aufzeichnung – auch in Präsenz – (leider) immer.

Der andere Ort

Nach ganz überwiegender Auffassung ist der andere Ort i.S.d. § 110a SGG / § 128a ZPO ein beliebiger Ort außerhalb des Sitzungssaals (statt vieler: Schreiber www.zpoblog.de/?p=8432; so auch Müller, jurisPK-ERV § 110a SGG Rn. 34 f.). Auf Tatbestandsebene unterliegt der Begriff keiner weiteren Begrenzung. Insbesondere ist es auf Tatbestandsseite nicht erforderlich, den anderen Ort dahingehend einzugrenzen, dass die Übertragung nicht an einen „privaten“ Ort erfolgen dürfe. Ganz im Gegenteil dürften zur Erfüllung des Normzwecks sogar ganz regelmäßig bspw. die Kanzleiräume des Prozessbevollmächtigten, die Büro- oder Praxisräume des Sachverständigen oder eben die privaten Wohnräume des Zeugen oder eines Beteiligten in Betracht kommen (wie hier: LAG Düsseldorf Beschluss v. 12.03.2021 - 6 Sa 824/20 und v. 13.01.2021 - 12 Sa 453/20; siehe hierzu auch Natter, RDi 2021, 301). Bedenken gegen die Wohnung des Klägers als anderer Ort konnten sich hier allenfalls daraus ergeben, dass - worauf das LSG aber gar nicht eingeht - der Kläger aus Österreich teilnehmen wollte. Wie stets bei Verhandlungen im Wege der Bild- und Tonübertragung in das Ausland könnte man hinterfragen, ob nicht die territoriale Souveränität des ausländischen Staates – hier: Österreich – Sonderprobleme aufwirft. Dies gilt sicher unter Geltung des Amtsermittlungsgrundsatzes umso mehr (vgl. nur Windau jM 2021, 178).

Besonderheiten der Sozialgerichtsbarkeit

Das praktische Bedürfnis an Videokonferenztechnik war aufgrund der Pandemielage in der Sozialgerichtsbarkeit besonders groß: Aufgrund der sachlichen Zuständigkeit der Sozialgerichtsbarkeit gehört eine große Anzahl von Klägern einer Risikogruppe an (aufgrund Alters oder aufgrund Erkrankungen). Es ist daher davon auszugehen, dass diese Beteiligten noch über einen längeren Zeitraum bereits die Anreise insbesondere mit öffentlichen Verkehrsmitteln scheuen sowie einen Aufenthalt in einem Sitzungssaal meiden wollen dürften. Ferner besteht keine den Amtsgerichten entsprechende örtliche Dichte von Sozialgerichten, weshalb nicht nur zum Landessozialgericht, sondern auch zu den Sozialgerichten keine völlig unerhebliche Anreise zu mündlichen Verhandlungen notwendig ist. Schließlich lebt das sozialgerichtliche Verfahren gerade in erster Instanz in ganz besonderem Maße vom Mündlichkeitsgrundsatz. Die nicht selten unvertretenen Klägerinnen und Kläger benötigen die persönliche Ansprache der Richterinnen und Richter, teilweise bereits, um überhaupt ein Verständnis für den Gegenstand des Rechtsstreits zu erhalten. Dieses Vorgehen ist auch in der Prozessmaxime des Grundsatzes der Klägerfreundlichkeit als besonderes Wesensmerkmal der Sozialgerichtsbarkeit ausgeprägt (jurisPK-ERV/Müller, § 110a SGG Rn. 14). Es spricht daher gerade in der Sozialgerichtsbarkeit sehr viel für eine besonders großzügige Bewilligungspraxis zugunsten der Videokonferenz. Hierbei dürften aufgrund der Vielzahl unvertretener Beteiligter deren private Wohnräume eher die Regel als die Ausnahme sein.

Ermessensentscheidung

Nichtsdestotrotz taugt die Durchsetzbarkeit des Aufzeichnungsverbots taugt als Abwägungskriterium im Rahmen der Ermessensentscheidung. Abwägungsrelevant sind dabei aber neben dem Aufzeichnungsverbot noch zahlreiche weitere Gesichtspunkte, insbesondere die von dem Antragsteller geäußerten Motive. Medizinische Gründe wiegen naturgemäß schwerer als rein finanzielle oder zeitliche Gründe. Auf Seiten des Gerichts sind der Beschleunigungsgrundsatz und die Konzentrationsmaxime zu berücksichtigen; zudem das Interesse an einer umfassenden Sachverhaltsaufklärung durch Vernehmung von andernfalls unerreichbaren Zeugen oder Sachverständigen bzw. durch Schaffung der Möglichkeit einer Befragung von Zeugen und Sachverständigen durch einen Beteiligten, der ohne Videoübertragung andernfalls an einer Teilnahme an dem Termin zur Beweisaufnahme gehindert wäre. In die Abwägung einzustellen ist ferner die Eignung der Technik für die erwartete Verhandlungssituation. Dabei kann das Gericht eine Prognose anstellen, ob die Videokonferenz eine verfahrensfehlerfreie Verhandlung ermöglichen wird und ob die Technik eine effiziente, störungsfreie oder jedenfalls in Abwägung ausreichend störungsarme Sitzung zulässt. Es können auch die Ergebnisse aus einem vorherigen Techniktest mit den Beteiligten und Erkenntnisse darüber, von welchem anderen Ort sie teilnehmen wollen, berücksichtigt werden. Andererseits hat das Gericht auch zu beachten, ob es selbst in verhältnismäßiger Weise in der Lage ist, erwartete Defizite zu vermeiden; bspw. durch Vorgaben an den „anderen Ort“ (Festlegung hinsichtlich der Räumlichkeit etc.) oder durch Durchführung eines weiteren Testtermins vor der eigentlichen Verhandlung.

Fazit

Nach der eigenen Erfahrung des Autors ist gerade in der Sozialgerichtsbarkeit die Teilnahme eines – aus welchen Gründen auch immer – nicht anreisefähigen Beteiligten im Wege der Bild- und Tonübertragung ganz grundsätzlich seiner Nichtteilnahme vorzuziehen. Durch seine Teilnahme, ggf. von zu Hause aus, wird den Besonderheiten der Sozialgerichtsbarkeit und ihrer Prozessmaximen effizient Rechnung getragen. Sie scheidet daher gerade nicht regelmäßig aus. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Rechtsprechung des BVerfG (Nichtannahmebeschluss vom 27.11.2018 - 1 BvR 957/18, auf die der vom Senat zitierte Stäbler, jurisPK-SGG § 110a Rn. 21.1 Bezug nimmt). Letztlich gilt, dass die Gestattung der Videokonferenz eine Einzelfallentscheidung ist. Das Aufzeichnungsverbot wird in der Abwägung vor allem dann von herausgehobener Relevanz sein, wenn weitere Umstände hinzukommen, die darauf schließen lassen, dass eine Aufzeichnung der Verhandlung tatsächlich droht; bspw. weil sich der Beteiligte auch schon früher regelwidrig verhalten hat. Dies wäre dann aber in der Ermessensentscheidung entsprechend zu dokumentieren.
Dr. Henning Müller ist Direktor des Sozialgerichts Darmstadt. Er war von 2010 bis 2020 IT- und Organisationsreferent der hessischen Sozialgerichtsbarkeit und zeitweise der hessischen Arbeitsgerichtsbarkeit Er ist Autor u.a. des eJustice-Praxishandbuchs, sowie Mitherausgeber des beckOGK-SGG, des jurisPK-ERV (Band Öffentliches Recht) und der Zeitschriften „Recht Digital“ (RDi) und „Fachanwalt Arbeitsrecht“ (FA). Er betreibt unter www.ervjustiz.de einen Blog zum elektronischen Rechtsverkehr.