Entscheidung
Der Bundesgerichtshof schließt sich der Ansicht der Vorinstanzen an. Mit der Zustellung des Vollstreckungsbescheids an die prozessunfähige Partei sei die Einspruchsfrist wirksam in Gang gesetzt worden; der Vollstreckungsbescheid sei mangels fristgemäßen Einspruchs daher rechtskräftig geworden.
"Der Vollstreckungsbescheid vom 27. Februar 2009 ist durch die vom Betreuer der Erblasserin am 4. Juni 2009 erklärte Rücknahme des hiergegen allein eröffneten Einspruchs (§ 700 Abs. 1, § 338 ZPO) rechtskräftig geworden. […] Die zweiwöchige Einspruchsfrist hat mit der am 5. März 2009 bewirkten Zustellung des Vollstreckungsbescheids an die zu diesem Zeitpunkt geschäfts- und prozessunfähige Erblasserin zu laufen begonnen.
Zwar ist ein zustellungsbedürftiges Schriftstück bei nicht prozessfähigen Personen an deren gesetzlichen Vertreter zuzustellen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 ZPO); eine Zustellung, die - wie hier - an den Prozessunfähigen selbst erfolgt, ist unwirksam (§ 170 Abs. 1 Satz 2 ZPO). Weiter trifft es zu, dass die unwirksame Zustellung eines Versäumnisurteils oder eines Vollstreckungsbescheids grundsätzlich die Einspruchsfrist gemäß § 339 Abs. 1 Halbs. 2 ZPO nicht in Gang setzt […]. Dies gilt jedoch […] nicht für die Fälle einer gemäß § 170 Abs. 1 Satz 2 ZPO unwirksamen Zustellung von Urteilen oder Vollstreckungsbescheiden an die prozessunfähige Partei […].
Denn in Anbetracht der Ausgestaltung der Nichtigkeitsklage bei mangelhafter Vertretung einer Partei (§ 578 Abs. 1, § 579 Abs. 1 Nr. 4, § 586 Abs. 3, § 584 Abs. 2 ZPO) und des Gebots der Rechtssicherheit kommt einer unwirksamen Zustellung an eine als prozessfähig behandelte, tatsächlich aber prozessunfähige Partei ausnahmsweise insoweit Rechtswirkung zu, als es um die Auslösung der Einspruchs- oder Rechtsmittelfrist geht […]."
Dieses Ergebnis begründet der Bundesgerichtshof zunächst systematisch mit der Vorschrift des § 586 Abs. 3 ZPO. Aus dieser ergebe sich, dass eine Nichtigkeitsklage auch bei der Zustellung des Urteils an eine prozessunfähige Partei zulässig sei. Eine Nichtigkeitsklage setze wiederum aber ein rechtskräftiges Urteil voraus. Aus § 586 Abs. 3 ZPO folge daher, dass der Gesetzgeber davon ausgehe, dass auch ein an eine nicht ordnungsgemäß vertretene Partei zugestelltes Urteil rechtskräftig werde. Zudem erfordere auch das Gebot der Rechtssicherheit, dass die Zustellung von Urteilen an eine prozessunfähige Partei Rechtsmittelfristen in Gang setze. Denn sonst würden Urteile, die keiner Verkündung bedürften (z.B. §§ 310 Abs. 3, 307, 341 Abs. 2, 700 Abs. 1 ZPO), niemals rechtskräftig. Im Ergebnis müsse daher auch eine nach § 170 Abs. 1 Ziff. 2 ZPO unwirksame Zustellung an eine prozessunfähige Partei den Lauf der Einspruchs- und Rechtsmittelfrist in Gang setzen.
Anmerkung
Das Ergebnis ist eine teleologische Reduktion der Vorschrift des § 170 Abs. 1 Satz 2 ZPO insoweit, als diese für die Zustellung von Urteilen (und Vollstreckungsbescheiden) nicht gilt. Dies erscheint angesichts der Schutzwürdigkeit der prozessunfähigen Partei zwar überraschend. Die (ausführlich und sehr sorgfältig begründete) Lösung des Bundesgerichtshofs schafft m.E. aber einen überzeugenden Ausgleich zwischen Rechtssicherheit einerseits (Rechtskraft) und Schutz der prozessunfähigen Partei andererseits (Wahlrecht zwischen Rechtsmittel und Nichtigkeitsklage).
Nach Ansicht des Bundesgerichtshofs hat die
prozessunfähige Partei übrigens die
Wahl, ob sie gegen die Ausgangsentscheidung mittels eines Rechtsmittels vorgeht oder gegen die Ausgangsentscheidung eine auf § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO gestützte Nichtigkeitsklage erhebt. Deshalb war es auch unschädlich, dass der Betreuer den Einspruch zurückgenommen hatte. Denn der Nichtigkeitsgrund der mangelhaften Vertretung (
§ 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO) sei in
§ 579 Abs. 2 ZPO gerade nicht genannt. Der Mangel müsse daher nicht vorrangig mit einem Rechtsmittel geltend gemacht werden. Dann sei es aber auch nicht schädlich, wenn ein zunächst eingelegtes Rechtsmittel später zurückgenommen wird.
Anmerkung/Besprechung, BGH, Urteil vom 15.01.2014 – VIII ZR 100/13.
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