Wirksamkeit der Urteilszustellung an eine prozessunfähige Partei

Schon etwas älter aber für die Veröffentlichung in BGHZ vorgesehen und daher sehr „besprechungswürdig" ist das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 15.01.2014 – VIII ZR 100/13.

Darin geht es um die Frage, ob die Zustellung eines Urteils an eine prozessunfähige Partei den Lauf der Einspruchs- und Rechtsmittelfristen in Gang setzt.

Sachverhalt

Dem Verfahren lag – vereinfacht – folgender Sachverhalt zugrunde: Der nicht (mehr) geschäfts- und prozessfähigen Klägerin war am 05.03.2009 ein Vollstreckungsbescheid über eine Mietforderung in Höhe von gut 57.000 EUR zugestellt worden. Gegen diesen hatte sie nichts unternommen. Als ihr Betreuer rund einen Monat später davon erfuhr, hatte dieser für die Klägerin zunächst Einspruch eingelegt und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt.

Später hatte er den Einspruch zurückgenommen und stattdessen Nichtigkeitsklage (§ 579 ZPO) gegen den Vollstreckungsbescheid erhoben. Die Vorinstanzen hatten die Nichtigkeitsklage für begründet erklärt; im Ausgangsverfahren hatten sie die Klage der Vermieterin wegen Prozessunfähigkeit der dort Beklagten als unzulässig abgewiesen. Die beklagte Vermieterin hatte sich dagegen auf § 170 Abs. 1 ZPO berufen und die Ansicht vertreten, der Vollstreckungsbescheid sei mangels wirksamer Zustellung gar nicht rechtskräftig geworden. Das alte Verfahren sei daher nicht rechtskräftig abgeschlossen, die Nichtigkeitsklage schon unzulässig. Jedenfalls aber könne die Klägerin keine Nichtigkeitsklage mehr erheben, da sie den Einspruch gegen den Vollstreckungsbescheid zurückgenommen habe.

(Die Klägerin war während des Verfahrens verstorben, weshalb im Urteil von der "Erblasserin" die Rede ist.)

Im Mahnverfahren gem. §§ 688 ff. ZPO erlässt das Mahngericht auf entsprechenden (zulässigen) Antrag zunächst einen Mahnbescheid, der dem Antragsgegner gem. § 693 Abs. 1 ZPO zugestellt wird. Erhebt der Antragsgegner gegen diesen keinen Widerspruch, erlässt das Mahngericht auf Antrag gem. § 699 Abs. 1 ZPO einen Vollstreckungsbescheid, der dem Antragsgegner ebenfalls zugestellt, § 699 Abs. 4 ZPO. Dieser ist gem. § 700 Abs. 1 einem Versäumnisurteil gleichgestellt. Gegen den Vollstreckungsbescheid muss der Antragsgegner daher binnen zwei Wochen entsprechend § 338 ZPO Einspruch einlegen, wenn der Vollstreckungsbescheid nicht rechtskräftig werden soll.

Die Klägerin hatte hier aber keinen Einspruch eingelegt, so dass der Vollstreckungsbescheid rechtskräftig geworden war. Rechtskräftige Entscheidungen können aber nur unter den sehr engen Voraussetzungen der §§ 578 ff. ZPO angegriffen werden: Mit der Nichtigkeitsklage gem. § 579 ZPO können dabei schwerwiegende Verfahrensmängel geltend gemacht werden: eine falsche Besetzung des Gerichts oder dass eine Partei nicht richtig vertreten war. Mit der Restitutionsklage gem. § 580 ZPO können schwerwiegende Mängel der Entscheidungsgrundlage geltend gemacht werden (z.B. dem Urteil zugrunde gelegte gefälschte Urkunden, Falschaussagen von Zeugen, etc.).

Ist die Nichtigkeits- oder Restitutionsklage begründet, wird damit das (rechtskräftige) Urteil beseitigt: Über die ursprüngliche Klage wird gem. § 590 Abs. 1 ZPO erneut verhandelt, der Ausgangsprozess also fortgesetzt. Die Vorinstanzen hatten die Nichtigkeitsklage hier für begründet erachtet, so dass das Ausgangsverfahren fortzusetzen war. In jenem war die Klage der Vermieterin aber gem. § 51 ZPO unzulässig, da die dort Beklagte prozessunfähig war.

Entscheidung

Der Bundesgerichtshof schließt sich der Ansicht der Vorinstanzen an. Mit der Zustellung des Vollstreckungsbescheids an die prozessunfähige Partei sei die Einspruchsfrist wirksam in Gang gesetzt worden; der Vollstreckungsbescheid sei mangels fristgemäßen Einspruchs daher rechtskräftig geworden.

"Der Vollstreckungsbescheid vom 27. Februar 2009 ist durch die vom Betreuer der Erblasserin am 4. Juni 2009 erklärte Rücknahme des hiergegen allein eröffneten Einspruchs (§ 700 Abs. 1, § 338 ZPO) rechtskräftig geworden. […] Die zweiwöchige Einspruchsfrist hat mit der am 5. März 2009 bewirkten Zustellung des Vollstreckungsbescheids an die zu diesem Zeitpunkt geschäfts- und prozessunfähige Erblasserin zu laufen begonnen.

Zwar ist ein zustellungsbedürftiges Schriftstück bei nicht prozessfähigen Personen an deren gesetzlichen Vertreter zuzustellen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 ZPO); eine Zustellung, die - wie hier - an den Prozessunfähigen selbst erfolgt, ist unwirksam (§ 170 Abs. 1 Satz 2 ZPO). Weiter trifft es zu, dass die unwirksame Zustellung eines Versäumnisurteils oder eines Vollstreckungsbescheids grundsätzlich die Einspruchsfrist gemäß § 339 Abs. 1 Halbs. 2 ZPO nicht in Gang setzt […]. Dies gilt jedoch […] nicht für die Fälle einer gemäß § 170 Abs. 1 Satz 2 ZPO unwirksamen Zustellung von Urteilen oder Vollstreckungsbescheiden an die prozessunfähige Partei […].

Denn in Anbetracht der Ausgestaltung der Nichtigkeitsklage bei mangelhafter Vertretung einer Partei (§ 578 Abs. 1, § 579 Abs. 1 Nr. 4, § 586 Abs. 3, § 584 Abs. 2 ZPO) und des Gebots der Rechtssicherheit kommt einer unwirksamen Zustellung an eine als prozessfähig behandelte, tatsächlich aber prozessunfähige Partei ausnahmsweise insoweit Rechtswirkung zu, als es um die Auslösung der Einspruchs- oder Rechtsmittelfrist geht […]."

Dieses Ergebnis begründet der Bundesgerichtshof zunächst systematisch mit der Vorschrift des § 586 Abs. 3 ZPO. Aus dieser ergebe sich, dass eine Nichtigkeitsklage auch bei der Zustellung des Urteils an eine prozessunfähige Partei zulässig sei. Eine Nichtigkeitsklage setze wiederum aber ein rechtskräftiges Urteil voraus. Aus § 586 Abs. 3 ZPO folge daher, dass der Gesetzgeber davon ausgehe, dass auch ein an eine nicht ordnungsgemäß vertretene Partei zugestelltes Urteil rechtskräftig werde. Zudem erfordere auch das Gebot der Rechtssicherheit, dass die Zustellung von Urteilen an eine prozessunfähige Partei Rechtsmittelfristen in Gang setze. Denn sonst würden Urteile, die keiner Verkündung bedürften (z.B. §§ 310 Abs. 3, 307, 341 Abs. 2, 700 Abs. 1 ZPO), niemals rechtskräftig. Im Ergebnis müsse daher auch eine nach § 170 Abs. 1 Ziff. 2 ZPO unwirksame Zustellung an eine prozessunfähige Partei den Lauf der Einspruchs- und Rechtsmittelfrist in Gang setzen.

Anmerkung

Das Ergebnis ist eine teleologische Reduktion der Vorschrift des § 170 Abs. 1 Satz 2 ZPO insoweit, als diese für die Zustellung von Urteilen (und Vollstreckungsbescheiden) nicht gilt. Dies erscheint angesichts der Schutzwürdigkeit der prozessunfähigen Partei zwar überraschend. Die (ausführlich und sehr sorgfältig begründete) Lösung des Bundesgerichtshofs schafft m.E. aber einen überzeugenden Ausgleich zwischen Rechtssicherheit einerseits (Rechtskraft) und Schutz der prozessunfähigen Partei andererseits (Wahlrecht zwischen Rechtsmittel und Nichtigkeitsklage).

Nach Ansicht des Bundesgerichtshofs hat die prozessunfähige Partei übrigens die Wahl, ob sie gegen die Ausgangsentscheidung mittels eines Rechtsmittels vorgeht oder gegen die Ausgangsentscheidung eine auf § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO gestützte Nichtigkeitsklage erhebt. Deshalb war es auch unschädlich, dass der Betreuer den Einspruch zurückgenommen hatte. Denn der Nichtigkeitsgrund der mangelhaften Vertretung (§ 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO) sei in § 579 Abs. 2 ZPO gerade nicht genannt. Der Mangel müsse daher nicht vorrangig mit einem Rechtsmittel geltend gemacht werden. Dann sei es aber auch nicht schädlich, wenn ein zunächst eingelegtes Rechtsmittel später zurückgenommen wird.

Anmerkung/Besprechung, BGH, Urteil vom 15.01.2014 – VIII ZR 100/13.

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