Verblassende Erinnerung als drohender Beweismittel­verlust i.S.d. § 485 ZPO?

Einige sehr interessante und praktisch relevante Frage im Recht des selbständigen Beweisverfahrens behandeln zwei Beschlüsse des OLG Köln vom 25.07.2019 und vom 03.09.2019, jeweils zum Aktenzeichen 20 U 75/18. Darin geht es um die Frage, wann eine Partei die Beweisaufnahme gleichsam „vorziehen“ kann, indem sie während des anhängigen Rechtsstreits einen Antrag auf Durchführung eines selbständigen Beweisverfahrens stellt.

Sachverhalt

Eine Schilderung des Sachverhalts ist den Beschlüssen leider nicht zu entnehmen. Aus ihnen ergibt sich aber, dass der Kläger die Beklagte wegen eines Behandlungsfehlers auf Schadensersatz in Anspruch nahm. Im Laufe des – zwischenzeitlich vor dem Oberlandesgericht anhängigen Verfahren – stellte der Kläger den Antrag, über seinen Gesundheitszustand in den Jahren 2008 bis 2014 im Wege eines selbständigen Beweisverfahrens gem. § 485 Abs. 1 ZPO Beweis zu erheben und dazu u.a. seinen Hausarzt, den Zeugen P, zu vernehmen, sowie die bei diversen Ärzten und Kliniken vorhandene Behandlungsdokumentationen in Augenschein zu nehmen. Die Beklagte widersprach der Durchführung des selbständigen Beweisverfahrens.

Gem. § 485 Abs. 1 ZPO kann während oder außerhalb eines Streitverfahrens auf Antrag einer Partei Augenscheins-, Zeugen- oder Sachverständigenbeweis erhoben werden, wenn der Gegner zustimmt oder zu besorgen ist, dass das Beweismittel verloren geht oder seine Benutzung erschwert wird. Das Ergebnis dieser Beweisaufnahme ist kann gem. § 493 ZPO im Prozess verwendet werden und ist deshalb zwischen den Parteien bindend. Einen solchen Antrag hatte der Kläger hier gestellt und wollte damit die Beweisaufnahme „vorziehen“. Das begründete er damit, dass die Behandlungsunterlagen möglicherweise bald vernichtet würden und dass die Erinnerungsfähigkeit seines Hausarztes mit Zeitablauf immer mehr abnehme. Mangels Zustimmung der Beklagten stellte sich nun die Frage, ob in beiden Fällen davon auszugehen war, dass das Beweismittel i.S.d. § 485 Abs. 1 ZPO „verloren geht oder seine Benutzung erschwert wird“.

Entscheidung

Das OLG hat den Antrag auf Durchführung eines selbständigen Beweisverfahrens sowie die dagegen gerichtete Gegenvorstellung zurückgewiesen:

„Die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts folgt im Hinblick auf das unter gleichem Aktenzeichen anhängige Hauptsacheverfahren aus § 486 Abs. 1 ZPO.

Der Antrag (…) auf Durchführung eines selbständigen Beweisverfahrens war jedoch als unzulässig zurückzuweisen, da die Voraussetzungen des § 485 ZPO nicht vorliegen.

Da vorliegend ein Hauptsacheverfahren bereits anhängig ist, bemisst sich die Zulässigkeit des Beweissicherungsverfahrens nicht nach § 485 Abs. 2 ZPO, sondern nach § 485 Abs. 1 ZPO. Danach kann während oder außerhalb eines Streitverfahrens auf Antrag einer Partei die Einnahme des Augenscheins, die Vernehmung von Zeugen oder die Begutachtung durch einen Sachverständigen angeordnet werden, wenn der Gegner zustimmt oder zu besorgen ist, dass das Beweismittel verloren geht oder seine Benutzung erschwert wird.

Die Beklagte hat der Durchführung des Beweissicherungsverfahrens nicht zugestimmt, sondern dieser (…) sogar ausdrücklich widersprochen.

Es ist auch nichts dafür ersichtlich, dass die Besorgnis des Verlusts eines Beweismittels besteht oder seine Benutzung erschwert werden könnte. (…)

Soweit der Kläger geltend macht, die für die Behandlungsdokumentationen geltenden Aufbewahrungsfristen nach § 630f Abs. 3 BGB stünden vor ihrem Ablauf, ergibt sich hieraus entsprechendes nicht. Denn dem Kläger ist es – wie dieser selbst erkannt hat – ohne weiteres möglich, in Ausübung der ihm zustehenden Rechte nach § 630g BGB vor Ablauf der Aufbewahrungsfristen – sofern diese nicht bereits abgelaufen sind – Einsicht in die Behandlungsdokumentationen zu nehmen und – sofern eine Aushändigung nicht möglich ist – Abschriften zu verlangen.

Eine im Rahmen von § 485 Abs. 1 ZPO relevante Beeinträchtigung des Erinnerungsvermögens des Zeugen P. ist ebenfalls nicht zu besorgen. Das Erinnerungsvermögen von Zeugen mag regelmäßig abnehmen, je weiter das den Gegenstand der Befragung ausmachende Geschehen zurückliegt. Dieser Umstand liegt aber in der Natur einer jeden Zeugenbefragung und ist nicht geeignet, die besonderen Voraussetzungen für die Durchführung eines Beweissicherungsverfahrens zu begründen. Vorliegend gilt dies umso mehr, als es dem Zeugen unbenommen wäre, eine etwa verblassende Erinnerung durch Einblick in die Behandlungsdokumentation aufzufrischen.“

„Die von dem Kläger (…) in Bezug genommene Behandlungsdokumentation mag im Übrigen zwar knapp gehalten sein, erscheint zur Auffrischung der Erinnerung des Zeugen aber keineswegs ungeeignet. Selbst wenn der Zeuge in absehbarer Zeit in den Ruhestand treten sollte, führt dies nicht zur Beeinträchtigung der Möglichkeit, diesen – sofern die rechtlichen Voraussetzungen vorliegen – als Zeugen zu vernehmen.“

Anmerkung

Soweit es um die „Inaugenscheinnahme der Behandlungsunterlagen“ geht, scheint mir der Antrag im Übrigen schon unzulässig: Denn die „Inaugenscheinnahme“ des äußerlichen Zustands der Dokumente dürfte nämlich nicht das sein, was der Kläger will; ihm geht es ersichtlich um den Inhalt, der aber nur Gegenstand des Urkundenbeweises ist. Der Urkundenbeweis ist allerdings in § 485 Abs. 1 ZPO gar nicht genannt. Leider unbefriedigend oberflächlich bleibt die Entscheidungen hinsichtlich der beantragten Zeugenvernehmung. Effer-Uhe (MDR 2018, 707 ff.) hat hier kürzlich sehr ausführlich und m.E. überzeugend dargelegt, warum gerade unter Berücksichtigung der auch im Zivilprozess geltenden Nullhypothese bei sehr lange zurückliegenden Sachverhalten faktisch ein Beweismittelverlust droht, wenn sich die Erinnerung nach langer Zeit nur noch auf das Kerngeschehen beschränkt und deshalb nicht mehr ausreichend Realkennzeichen vorhanden sind (zustimmend z.B. Zöller/Herget, § 485 Rn. 5, anders z.B. OLG München, Beschluss vom 29.07.2011 – 10 W 1226/11). Der lapidare Hinweis des Senats auf die „Natur jeder Zeugenvernehmung“ greift da ersichtlich deutlich zu kurz. Gerade bei Verkehrsunfällen, die einerseits „Massegeschäft“ sind und andererseits häufig eine Beweisaufnahme erfordern, ergäben sich ganz neue Möglichkeiten, wenn man einen Verlust des Beweismittels annähme: Nicht nur Geschädigte, sondern auch Versicherer könnten in geeigneten Fällen schon kurz nach dem Unfall ein selbständiges Beweisverfahren einleiten und damit auf einer deutlich objektiveren Grundlage regulieren, als lediglich auf Grundlage der Schilderung ihres Versicherungsnehmers. Damit wäre dann nicht nur ein Gewinn an „Gerechtigkeit“ i.S. einer richtigeren Regulierungsgrundlage verbunden, sondern auch ein Kostenvorteil. Denn bei einem nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme (relativ) eindeutigem Unfallhergang wird es zu einem späteren Prozess häufig nicht kommen, so dass dadurch zwei Gerichtsgebühren entfielen, u.U. auch Anwaltsgebühren (vgl. § 486 Abs. 4 i.V.m. 78 Abs. 3 ZPO). tl;dr: Der Umstand, dass das Erinnerungsvermögen von Zeugen regelmäßig abnehmen mag, je weiter das den Gegenstand der Befragung ausmachende Geschehen zurückliegt, liegt in der Natur einer jeden Zeugenbefragung und ist nicht geeignet, die besonderen Voraussetzungen für die Durchführung eines Beweissicherungsverfahrens zu begründen. Anmerkung/Besprechung, OLG Köln, Beschlüsse vom 25.07.2019 und 03.09.2019 – 20 U 75/18 Foto: 1971markus@wikipedia.de, Oberlandesgericht Köln (10), CC BY-SA 4.0