Verwertung eines Vernehmungsprotokolls statt Vernehmung des Zeugen?

Ist dem Zivilprozess ein Strafprozess vorausgegangen, stößt es bei den meisten Prozessbeteiligten auf wenig Begeisterung, dass die Beweisaufnahme bei nach wie vor streitigem Sachverhalt grundsätzlich noch einmal vor dem Zivilgericht wiederholt werden muss. Mit Urteil vom 04.09.2018 – 4 U 427/18 hat sich das OLG Dresden mit der insoweit praktisch äußerst relevanten Frage befasst, wann von einem stillschweigenden Verzicht auf einen zuvor angebotenen Zeugenbeweis auszugehen und deshalb eine Wiederholung der Beweisaufnahme entbehrlich ist.

Sachverhalt

Die Klägerin nimmt die Beklagte Kaskoversicherung auf Leistung in Anspruch und behauptet dazu, das versicherte Fahrzeug sei entwendet und später beschädigt wieder aufgefunden worden. Das Landgericht hat der Klage nach Beiziehung der Strafakte des Jugendschöffengerichts Leipzig, Anhörung der Klägerin und Vernehmung eines Zeugen stattgegeben. Dagegen wendet sich die beklagte Versicherung mit ihrer Berufung, mit der sie ihren Klageabweisungsantrag weiterverfolgt und u.a. rügt, das Landgericht habe zwei von ihr benannte Zeugen nicht vernommen, die unabhängig voneinander das Fahrzeug bereits am Morgen des angeblichen Tags der Entwendung am späteren Abstellort gesehen hätten. Zudem habe es einen weiteren Zeugen nicht vernommen, der den Vorwurf der Entwendung des Fahrzeugs bestritten habe und wegen widersprüchlicher Zeugenaussagen freigesprochen worden sei.

Die beklagte Versicherung hatte hier bestritten, dass das Fahrzeug entwendet worden war, und sich dazu u.a. auf die Aussage von zwei Zeugen berufen, die im Strafverfahren angegeben hatten, das Fahrzeug schon vor dem Zeitpunkt der behaupteten Entwendung am späteren Auffindeort gesehen zu haben. Diese Behauptung der Beklagten war gegenüber dem behaupteten Diebstahl ohne weiteres erheblich, so dass das Gericht die Zeugen grundsätzlich hätte vernehmen müssen. Allerdings waren die Zeugen schon im vorangegangenen Strafprozess vernommen worden. Deshalb hatte das Gericht lediglich diese Protokolle (im Wege des Urkundenbeweises) verwertet und die Zeugen nicht selbst vernommen. Fraglich war daher, ob dies hier ausnahmsweise zulässig war oder ob das Gericht dem Beweisantrag auf Vernehmung der Zeugen hätte nachgehen müssen.

Entscheidung

Das OLG ist von einem stillschweigenden Beweismittelverzicht ausgegangen:

„Die Auffassung der Beklagten, die Beweiswürdigung des Landgerichts sei fehlerhaft, weil es zur Abklärung des Sachverhaltes nicht nur die Strafakte des Amtsgerichts Leipzig beiziehen, sondern auch die von der Beklagten benannten Zeugen K., T. und H. selbst hätte vernehmen müssen, trifft nicht zu.

Denn das Landgericht hat in der mündlichen Verhandlung am 30.08.2017 auf die Möglichkeit einer Verwertung der Vernehmungsprotokolle aus dem Strafverfahren hingewiesen und eine Frist zur Mitteilung gesetzt, ob an der mündlichen Vernehmung der benannten Zeugen festgehalten wird. Da die Beklagte in Reaktion hierauf mit Schriftsatz vom 14.09.2017 wiederum nur auf die protokollierten Aussagen der Zeugen im Strafverfahren abgestellt hat ohne den Antrag auf Vernehmung zu wiederholen, hat sie stillschweigend auf die Vernehmung der Zeugen durch das Landgericht verzichtet.

Ein grundsätzlich möglicher und zulässiger Verzicht auf die Vernehmung von Zeugen durch schlüssige Handlung kann auch darin gesehen werden, dass die Partei, die noch nicht vernommene Zeugen benannt hat, nach durchgeführter Beweisaufnahme ihren Beweisantrag nicht wiederholt (…).

Diese Schlussfolgerung ist hier auch berechtigt, denn die Beklagte konnte dem Prozessverlauf und insbesondere dem Hinweis des Landgerichts ohne weiteres entnehmen, dass das Gericht mit der bisher durchgeführten Beweisaufnahme und der Beiziehung der Strafakte nebst den darin enthaltenen polizeilichen Vernehmungsprotokollen, Ermittlungsergebnissen und protokollierten Zeugenaussagen seine Aufklärungstätigkeit als erschöpft angesehen hat (…). Sie bleibt mit ihrem Antrag auf Vernehmung der Zeugen somit auch für die Berufungsinstanz ausgeschlossen.

Die erneute Benennung eines Zeugen in der Berufungsinstanz nach erstinstanzlich erklärtem Verzicht auf dessen Vernehmung beruht auf einer Nachlässigkeit, so dass das Verteidigungsmittel nicht berücksichtigt werden kann, § 531 Abs. 2 Nr. 3 ZPO (…). Für das Berufungsverfahren ist vielmehr allein auf die Vernehmungsprotokolle und Zeugenaussagen aus dem Strafverfahren abzustellen, die der Senat im Wege des Urkundsbeweises zur Entscheidung herangezogen hat.“

Anmerkung

Gegen die Entscheidung ist (leider) keine Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt worden und leider wird in der Entscheidung auch nur rudimentär wiedergegeben, wie die Beklagtenvertreter auf die Anfrage des Gerichts reagiert haben, ob an dem Beweisantritt festgehalten werde. Denn an stillschweigende Erklärungen sind im Prozessrecht wie im sonstigen Rechtsverkehr hohe Anforderungen zu stellen, nicht umsonst fordert der BGH für die Annahme eines konkludenten Verzichts, dass „die Partei aus dem Prozeßverlauf erkennen konnte, daß das Gericht mit der bisher durchgeführten Beweisaufnahme seine Aufklärungstätigkeit als erschöpft angesehen hat“ (BGH, Urteil vom 02.11.1993 – VI ZR 227/92). Das wird man – so lästig doppelte Beweisaufnahmen auch sind – nur in Ausnahmefällen annehmen können, und ob diese hier wirklich vorlagen, erscheint nicht völlig zweifelsfrei. Für die anwaltliche Praxis ergibt sich aus der Entscheidung, dass in ähnlich gelagerten Fällen ggf. wiederholt und quasi „bei jeder Gelegenheit“ darauf hingewiesen muss, wenn an einem bislang vom Gericht übergangenen Beweisantritt festgehalten wird. tl;dr: Von einem stillschweigenden Verzicht auf einen benannten Zeugen ist auszugehen, wenn eine Partei eine Frist zur Stellungnahme, ob an der Vernehmung des Zeugen trotz Beiziehung einer Strafakte festgehalten werden soll, verstreichen lässt. Anmerkung/Besprechung, OLG Dresden, Urteil vom 04.09.2018 – 4 U 427/18. Foto: User:Kolossos | Dresden-Carolabruecke-Staendehaus | CC BY-SA 3.0