10 ZPO-Tipps für Proberichter:innen

Zur Vorbereitung einer Fortbildung für jüngere Kolleg:innen habe ich schon vor längerer Zeit eine Liste mit Kniffen oder Fallstricken erstellt, die ich in den vergangenen Jahren (kennen-)gelernt habe, aber gerne schon zu Anfang meiner beruflichen Laufbahn gekannt hätte. Da diese Tipps möglicherweise auch für viele Leser:innen des Blogs (auch aus der Anwaltschaft) interessant sein könnten, habe ich einen „bunten Strauß“ dieser Tipps im Folgenden überblicksartig aufgeschrieben. Die Ausführungen sind dabei bewusst knappgehalten und sollen die Thematik nicht erschöpfend erörtern, sondern vor allem ein Bewusstsein für bestimmte Konstellationen schaffen.

1. Das schriftliche Vorverfahren ist nicht immer erste Wahl

In geschätzt 95-98% aller Fälle wird zusammen mit der Zustellung der Klageschrift das schriftliche Vorverfahren angeordnet (vgl. § 272 ZPO); der frühe erste Termin spielt demgegenüber nur eine Nebenrolle. Die Unterschiede zwischen schriftlichem Vorverfahren und frühem ersten Termin sind allerdings praktisch geringer, als dies scheinen mag, denn auch der frühe erste Termin kann (und sollte) schriftsätzlich vorbereitet werden (vgl. § 275 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Sinnvoll ist das schriftliche Verfahren deshalb eigentlich nur dann, wenn ein Versäumnisurteil im schriftlichen Verfahren (§ 331 Abs. 3 ZPO) in Betracht kommt. Das ist aber in zwei Fällen nicht der Fall:
  • Ist ein Vollstreckungsbescheid vorangegangen, ist der Erlass eines Versäumnisurteils unzulässig (vgl. § 700 Abs. 4 Satz 2 ZPO).
  • Und bei vorangegangenem PKH-Prüfungsverfahren wird sich im Regelfall die beklagte Partei auch im Prozess verteidigen, wenn sie dem mit der Klage geltend gemachten Anspruch im PKH-Prüfungsverfahren entgegengetreten ist.
In diesen beiden Fällen führt ein schriftliches Vorverfahren somit i.d.R. nur zu einer Verzögerung des Rechtsstreits (weil frühestens nach Ablauf der – ggf. verlängerten – Klageerwiderungsfrist terminiert wird), weshalb ein früher erster Termin sinnvoller ist. (Der „frühe“ Termin muss dabei nicht besonders zeitnah sein, sondern kann auch dem normalen Terminierungsvorlauf folgen - er ist ja trotzdem deutlich früher, als wenn er erst nach Durchführung eines schriftlichen Vorverfahrens anberaumt worden wäre.)

2. Schnellere Gutachtenerstattung durch Fristsetzung

Neben häufigen Richterwechseln tragen insbesondere die Bearbeitungszeiten für Sachverständigengutachten zur Dauer langer Verfahren bei. Das ist in manchen Bestellungsgebieten kaum zu ändern, weil dort die meisten (guten) Sachverständigen Bearbeitungsfristen von bis zu einem Jahr haben. Das Gericht kann aber zu einer zeitnahen Erstattung des Gutachtens maßgeblich beitragen. Es muss es sogar, denn gem. § 411 Abs. 1 ZPO ist dem Sachverständigen für die Begutachtung eine Frist zu setzen. Dabei kann es sinnvoll sein, vor der Fristsetzung Kontakt zu dem oder der Sachverständigen aufzunehmen und abzuklären, wie lange die Gutachtenerstattung voraussichtlich dauern wird und die Frist auf dieser Grundlage zu bestimmen (dabei lässt sich dann z.B. auch schon frühzeitig klären, ob der Vorschuss ausreicht). Praktisch habe ich es so gut wie noch nie erlebt, dass ein Sachverständiger die von ihm selbst vorgegebene Frist nicht eingehalten hätte.

3. Keine Angst vor Auslandszustellungen

Ebenfalls häufig zu (unnötigen) Verzögerungen des Rechtsstreits führt es, wenn die Klageschrift im Ausland zuzustellen ist. Dabei sind Auslandszustellungen meistens deutlich weniger kompliziert, als sie auf den ersten Blick scheinen. Weitere Informationen finden sich in diesem ZPO-Überblick. Besonders wichtig ist, dass bei Zustellungen innerhalb der EU häufig keine Übersetzung erforderlich ist und dass das Gericht zwischen zwei verschiedenen Zustellwegen wählen kann. Außerhalb der EU ist wichtig, dass dem Zustellungsempfänger aufgeben werden kann (und sollte!), einen Zustellungsbevollmächtigten zu benennen (§ 184 ZPO).

4. Zustellung durch den Gerichtsvollzieher (§ 168 Abs. 2 ZPO)

Eine Zustellung kann aber auch im Inland Probleme bereiten. Gerade in der amtsgerichtlichen Praxis ergibt sich nicht selten die Situation, dass beispielsweise die Klageschrift unter der angegebenen Anschrift nicht zugestellt werden kann, die beklagte Partei aber unter der angegebenen Anschrift gemeldet ist. Eine Lösung kann hier die (persönliche) Zustellung durch den Gerichtsvollzieher gem. § 168 Abs. 2 ZPO sein. Die Erfahrung zeigt, dass es Gerichtsvollziehern (die werden dafür gesondert vergütet werden) in solchen Fällen öfters gelingt, eine Zustellung zu bewirken, die zuvor durch die Post gescheitert ist. Teilt der Gerichtsvollzieher ebenfalls mit, dass eine Zustellung nicht möglich ist, kann dies ggf. ein erster (wichtiger) Schritt auf dem Weg zu einer öffentlichen Zustellung sein.

5. Besonderheiten bei Rechtswegverweisung gem. § 17a GVG

Im Zusammenhang mit der Zustellung der Klageschrift stellen sich häufig Fragen der Zuständigkeit. Dass der Rechtsstreit bei sachlicher oder örtlicher Unzuständigkeit gem. § 281 ZPO auf Antrag an das zuständige Gericht zu verweisen ist, dürfte allgemein bekannt sein. Erstaunlich wenig bekannt ist, dass das Verfahren deutlich anders ist und sich nach § 17a GVG richtet, wenn nicht an ein anderes Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit verwiesen werden soll, sondern an ein Gericht einer anderen Gerichtsbarkeit oder an ein Familien- oder Landwirtschaftsgericht (vgl. § 17a GVG Abs. 6). Was genau in § 17a GVG geregelt ist und wie das Gericht vorgehen muss, wenn der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten nicht eröffnet ist, steht in diesem ZPO-Überblick.

6. Zwischenurteil über die Zulässigkeit der Klage § 280 ZPO

Insbesondere im Zusammenhang mit der örtlichen, sachlichen und ggf. auch internationalen Zuständigkeit stellt sich manchmal ein weiteres Problem: Die Parteien streiten erbittert über die Zulässigkeit der Klage, das Gericht hält diese für zulässig (verweist also nicht), die gegen die Zulässigkeit vorgebrachten Bedenken sind aber von Gewicht. Dann entsteht ein Dilemma: Soll das Gericht nun in der Sache entscheiden und ggf. in eine langwierige und teure Beweisaufnahme einsteigen, die am Ende überflüssig sein könnte, weil das Berufungs- oder Revisionsgericht die Klage schon für unzulässig hält? Hier hilft § 280 ZPO: Das Gericht kann über die Zulässigkeit vorab durch Zwischenurteil entscheiden, entweder im Anschluss an den ersten Verhandlungstermin oder ggf. mit Zustimmung der Parteien auch vorab im schriftlichen Verfahren. Dann können die Parteien insoweit zunächst eine abschließende Entscheidung herbeiführen – nicht selten führt aber diese „Androhung“ auch dazu. Es soll aber auch schon vorgekommen sein, dass die beklagte Partei sich dann – wo es zulässig ist – rügelos einlässt.

7. Bei Vernehmungen: Fragen und Antworten diktieren

Gerade zu Beginn der richterlichen Tätigkeit (aber häufig auch noch später) bereitet das Diktieren von Zeugenaussagen erhebliche Schwierigkeiten. Denn zu fragen, zuzuhören (ggf. noch mitzuschreiben) und das alles zu diktieren erfordert eine sehr hohe Konzentrationsleistung. Und nicht selten ist das Ergebnis weniger aussagekräftig, als gewünscht. (Ein Mitschnitt der Aussage bzw. ein Wortprotokoll wird i.d.R. an den organisatorischen Anforderungen scheitern.) Diese Probleme kann jedenfalls teilweise vermieden werden, indem der Richter oder die Richterin schlicht Fragen und Antworten (möglichst nah am Wortlaut) protokolliert. Denn dadurch entfällt der gedankliche Aufwand für das „Zusammenfassen/Umformulieren“ und zugleich wird das Protokoll deutlich aussagekräftiger. Und das Protokoll wird gar nicht unbedingt viel länger, weil diese Art der Protokollierung nach meiner Erfahrung dazu führt, dass alle Beteiligten weniger und präzisere Fragen stellen.

8. Schriftliches Verfahren bei Nebenforderungen gem. § 128 Abs. 3 ZPO

Eine ebenfalls gar nicht seltene Konstellation: Nach Zustellung der Klageschrift oder Anspruchsbegründung wird die Hauptforderung erfüllt. Die klagende Partei erklärt den Rechtsstreit in der Folge (nur) betreffend die Hauptforderung für erledigt. Die beklagte Partei „rührt“ sich insgesamt gar nicht bzw. lässt sich im landgerichtlichen Prozess nicht anwaltlich vertreten. Dann kann über die Kosten (und ggf. die Nebenforderungen, wenn über sie kein Teilversäumnisurteil ergeht) nicht nach § 128 Abs. 2 ZPO im schriftlichen Verfahren entschieden werden, da es an der erforderlichen Zustimmung der beklagten Partei fehlt. Deshalb wäre grundsätzlich ein Termin zur mündlichen Verhandlung erforderlich, was den Rechtsstreit ggf. deutlich verzögert. Am Amtsgericht kann in diesen Fällen § 495a ZPO helfen. Am Landgericht (und auch am Amtsgericht, weil es keine § 495a Satz 2 ZPO entsprechende Regelung gibt), hilft in diesen Fällen § 128 Abs. 3 ZPO: Über (ursprüngliche) Nebenforderungen und/oder die Kosten kann das Gericht im schriftlichen Verfahren entscheiden – und zwar ohne dass es dafür die Zustimmung der Parteien braucht.

9. Endurteil statt Versäumnisurteil im Bagatellverfahren

Der Anspruch auf rechtliches Gehör schränkt das in § 495a ZPO eingeräumte Ermessen relativ weit ein; praktisch relevant sind vor allem die Möglichkeiten, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden und das Urteil an Verkündungs Statt zuzustellen. Erstaunlich selten genutzt wird die Möglichkeit, im Falle einer Säumnis durch Endurteil und nicht durch Versäumnisurteil zu entscheiden. Das ist nach h.M. nach einer Anordnung des schriftlichen Vorverfahrens (bzw. einer ähnlichen Anordnung) möglich, wenn keine Verteidigungsanzeige eingeht. Gleiches gilt, wenn eine Partei im Termin zur mündlichen Verhandlung nicht erscheint (s. nur BVerfG, Beschluss vom 07.08.2007 – 1 BvR 685/07; Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen, Beschluss v. 17.07.2014 – Vf. 6-IV-14; MünchKommZPO/Deppenkemper, § 495a Rn. 22; anders z.B. Peglau, NJW 1997, 2222). Die Parteien müssen allerdings (deutlich) auf diese Möglichkeit hingewiesen worden sein (BVerfG aaO). Ein solches Urteil schließt das Verfahren ab und bereitet dabei kaum mehr Aufwand als ein Versäumnisurteil. Wird der Klage stattgeben und hat die beklagte Partei sich nicht verteidigt, reicht es i.d.R. aus, die Anspruchsgrundlage zu nennen, darauf hinzuweisen, dass die anspruchsbegründenden Tatsachen der Klageschrift/Anspruchsbegründung zu entnehmen sind und auf § 138 Abs. 3 ZPO Bezug zu nehmen. Außerdem müssen die Nebenforderungen und Nebenentscheidungen in ein paar Sätzen begründet werden. Ist das Verfahren nicht einseitig geblieben, muss sich das Gericht allerdings mit dem Vorbringen der Parteien auseinandersetzen. Und eine solche abschließende Entscheidung ist auch im Hinblick auf den Anspruch auf rechtliches Gehör kaum bedenklich: Stellt sich im Nachhinein heraus, dass die Entscheidung den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt (weil der beklagten Partei beispielsweise aufgrund entschuldigter Ortabwesenheit eine Verteidigung nicht möglich war), ist auf die Gehörsrüge gem. § 321a ZPO das Verfahren fortzusetzen.

10. Augen auf bei Akteneinsichtsgesuchen!

Begehrt jemand Einsicht in die Verfahrensakten, wird dies oft unmittelbar gewährt, insbesondere wenn die Akteneinsicht in die Zivilakte von einer Behörde begehrt wird (beispielsweise einer Staatsanwaltschaft). Tatsächlich ist bei der Gewährung von Akteneinsicht jedoch Zurückhaltung geboten, denn nur die Parteien während des Rechtsstreits können uneingeschränkt die Akten einsehen. Für Akteneinsichtsgesuche Dritter (auch z.B. den Parteien nach Abschluss des Rechtsstreits, Streitverkündeten oder Behörden) ist gem. § 299 Abs. 2 ZPO grundsätzlich der „Gerichtsvorstand“ zuständig (also Direktor:in/Präsident:in), oft ist die Befugnis aber auf die Richter:innen oder Vorsitzende:n zurückübertragen. Außerdem ist Akteneinsicht gem. § 299 Abs. 2 ZPO nur dann zu gewähren, wenn die Dritten ein rechtliches Interesse an der begehrten Akteneinsicht glaubhaft gemacht haben und das rechtliche Interesse einem Geheimhaltungsinteresse der Parteien vorgeht. Dazu ist den Parteien rechtliches Gehör zu gewähren, bevor Dritten Akteneinsicht gewährt wird. Ausführlichere Informationen dazu finden sich ebenfalls in einem ZPO-Überblick.
Und last but not least: Eigentlich mache ich hier im Blog keine Werbung. Aber an dieser Stelle erscheint es mir absolut sinnvoll: Viel mehr hilfreiche Tipps, Anregungen, Arbeitsmuster, etc. für Berufsanfänger:innen in der Justiz finden sich in Büßer/Tonner, Das zivilrichterliche Dezernat. Das Buch ist gerade in der 4. Auflage erschienen. Mir hat meine ältere Auflage die ersten Jahre im Beruf sehr vereinfacht, ich kann es deshalb allen im Zivilrecht tätigen Kolleg:innen nur wärmstens ans Herz legen.

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