ZPO-Überblick: Tatsachenfeststellung, Überzeugung des Gerichts und freie Beweiswürdigung

Zu den Themen, bei denen oft gerade zu Anfang des Berufslebens (aber nicht nur da) in Anwalt- und Richterschaft viel Unsicherheit und teilweise auch Unkenntnis herrscht, gehört der Grundsatz der sog. freien Beweiswürdigung und die sich daraus für die Überzeugungsbildung und die Beweisaufnahme ergebenden Konsequenzen. Die Grundzüge sollen daher im Folgenden – wie immer bewusst möglichst knapp und praxisnah – dargestellt werden.

I. Grundlagen

1. Die kleine Welt des SAPUZ…

Grundlage vieler Irrtümer und Unsicherheit in diesem Bereich könnte die Ausbildung sein, in der unter dem Thema „Beweisrecht“ insbesondere oder gar ausschließlich die Einzelheiten der fünf Beweismittel abgehandelt werden. Daraus und ggf. auch aus dem missverständlichen Ausdruck der „Beweiswürdigung“ (richtiger wäre: „Verhandlungs- und Beweiswürdigung“ oder „Überzeugungsbildung) folgend drängt sich dann offenbar vielfach der Eindruck auf, im Rahmen der tatsächlichen Feststellungen gehe es (nur) darum, ob eine Tatsache mit den genannten Beweismitteln „bewiesen“ sei. Dabei ist diese Sichtweise gleich in beide Richtungen falsch: Denn dass beispielsweise die Aussage eines Zeugen ergiebig war, führt einerseits noch nicht dazu, dass diese Tatsache damit vom Gericht seiner Entscheidung zugrunde zu legen („bewiesen“) wäre; nach der inzwischen weitgehend anerkannten Nullhypothese (s. dazu z.B. Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 4. Aufl. 2014, S. 69 ff.) ist vielmehr im Ausgangspunkt gerade das Gegenteil richtig. Und das Gericht darf andererseits auch von einer streitigen Tatsache überzeugt sein, obwohl der beweisbelasteten Partei dafür kein Beweismittel zur Verfügung steht oder die Beweisaufnahme unergiebig verlief.

2. … und die große Freiheit der freien Beweiswürdigung

Denn die ZPO ist – schon seit 1877 – viel fortschrittlicher, als es der „SAPUZ“-Satz vermuten lässt. Sie kennt zwar nur diese fünf genannten Beweismittel, beschränkt das Gericht in seiner Überzeugungsbildung aber gerade nicht darauf. Vielmehr bestimmt § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO als zentrale Norm des Beweisrechts in der ZPO:
Das Gericht hat unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei.“
Maßgeblich ist also schon nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht allein das Ergebnis einer Beweisaufnahme, sondern auch der „gesamte Inhalt der Verhandlungen“. Das wird im Entwurf des (im Wesentlichen identischen) § 249 CPO (s. Hahn/Mugdan, Die gesammten Materialien zur Civilprozeßordnung und dem Einführungsgesetz zu derselben, Die gesammten Materialien zu den Justizgesetzen, 1897, Bd. II S. 275 ff., dankenswerterweise digitalisiert von der HHU) wie folgt begründet:
„Der Grundsatz, daß der Richter die Thatfrage frei zu würdigen habe, ist nicht auf das Ergebniß der Beweisführung beschränkt, sondern (…) auf den gesammten Inhalt der Verhandlungen ausgedehnt worden. Diese Ausdehnung ist durch die Konsequenz und innere Gründe geboten. Soll die Entscheidung des Richters über die Wahrheit einer Thatsache auf seine Ueberzeugung gestützt werden, so ist es (…) schlechterdings unmöglich, diejenigen Momente, welche sich aus den Erklärungen der Parteien ergeben, von den durch eine Beweisaufnahme erbrachten Momenten zu sondern und ihrer Bedeutung hinter dieser zurücktreten zu lassen. Indem der Richter auch das Ergebniß der Sachverhandlung nach freier Ueberzeugung zu würdigen hat, ist ihm die Befugniß gegeben, eine bestrittene Thatsache, auf Grund des Ergebnisses der gesammten Sachverhandlung mittelst Schlussfolgerungen aus anderen unbestrittenen Thatsachen und dem gesammten Sachverhalt – ohne Beweiserhebung – als wahr anzunehmen. (…) Um eine sorgfältige Abwägung der Gründe, welche für die Uerberzeugung des Richters leitend sind, zu sichern, ist angeordnet, daß in dem Urtheil diese Gründe anzugeben seien.“
Daraus ergeben sich zwei praktisch oft übersehene Schlussfolgerungen für die richterliche Überzeugungsbildung:
  • Das Gericht darf im Rahmen seiner Überzeugungsbildung nicht nur das Ergebnis der Beweisaufnahme berücksichtigen, sondern muss auch den Inhalt der gesamten Verhandlungen berücksichtigen.
  • Das Gericht kann von einer streitigen Tatsache auch ohne Beweiserhebung allein auf Grund aufgrund von Schlussfolgerungen aus anderen unbestrittenen Tatsachen und dem Inhalt der gesamten Verhandlungen überzeugt sein.

II. Praktische Folgen aus richterlicher Sicht

1. Richterliche Überzeugungsbildung

Neben dem Ergebnis einer Beweisaufnahme darf und muss sich das Gericht im Rahmen seiner Überzeugungsbildung („Beweiswürdigung“) also mit dem gesamten Inhalt der Verhandlungen auseinandersetzen (s. dazu sehr lesenswert Doukoff, Zivilrechtliche Berufung, 6. Aufl. 2018 Rn. 628 ff.). Dazu gehört ganz wesentlich der Inhalt einer Parteianhörung oder der sonstigen persönlichen Bekundungen der Parteien (s. dazu schon das Zitat des historischen Gesetzgebers oben sowie ausführlich und mit Nachweisen Kockentiedt/Windau, NJW 2019, 3348 ff.). Zu berücksichtigen sind außerdem unstreitige Indizien, wie sie sich z.B. aus Privaturkunden ergeben können, die gem. § 416 ZPO nur eine Erklärung über die Haupttatsache, nicht aber die Haupttatsache selbst beweisen (man denke nur an Quittungen oder ärztliche Zeugnisse). Und stets zu berücksichtigen ist das Prozessverhalten einer Partei: Das Gericht kann und muss es z.B. würdigen, wenn die Partei
  • Beweismittel vernichtet,
  • Fragen nicht beantwortet oder trotz Anordnung des persönlichen Erscheinens ohne Entschuldigung nicht erscheint,
  • Urkunden trotz einer Anordnung gem. § 142 ZPO nicht vorlegt,
  • Beweisantritte widerruft,
  • bekannte Zeugen nicht benennt oder Zeugen nicht von ihrer Verschwiegenheitspflicht befreit,
  • ihren Sachvortrag (ggf. mehrfach) ändert und an die jeweilige Prozesslage anpasst oder
  • (in anderen Punkten) gegen die Wahrheitspflicht gem. § 138 Abs. 1 ZPO verstößt.
Als Inhalt der Verhandlungen zu berücksichtigen ist – mit der gebotenen Vorsicht – auch der persönliche Eindruck der Parteien oder eine Zeugnisverweigerung gem. § 384 ZPO (nicht aber gem. § 383 ZPO, vgl. BGH, Urteil vom 27.07.2017 – I ZR 68/16 Rn. 28). Das Gericht darf also eine Partei nicht vorschnell für beweisfällig halten, nur weil diese „keinen Beweis angeboten“ hat oder die Beweisaufnahme zu ihren Lasten unergiebig verlief. Es muss vielmehr auch prüfen und bei konkreten Anhaltspunkten dokumentieren, dass sich auch aus dem gesamten Inhalt der Verhandlung keine ausreichenden Anhaltspunkte ergeben, die eine Überzeugungsbildung zulassen. Umgekehrt darf das Gericht eine Tatsache nicht vorschnell als erwiesen ansehen und seiner Entscheidung zugrunde legen, nur weil die Beweisaufnahme insoweit ergiebig verlief. Es muss vielmehr auch insoweit prüfen und jedenfalls bei konkreten Anhaltspunkten dokumentieren, dass sonstige, sich aus dem Inhalt der Verhandlungen ergebende Umstände seiner Überzeugung nicht entgegenstehen.

2. Umfang der Beweisaufnahme

Die eingangs dargestellten Grundsätze haben nicht nur Auswirkungen auf die Überzeugungsbildung des Gerichts, sondern auch auf den Umfang der Beweisaufnahme: Ist das Gericht von einer Tatsache schon aufgrund anderer unstreitiger Umstände überzeugt, muss es die angebotenen (Haupt-)Beweise nicht mehr erheben. (Darauf wird es allerdings oftmals hinweisen müssen.) Das Gericht bleibt aber (selbstverständlich) verpflichtet, die gegenbeweislich angebotenen Beweise zu erheben und zu überprüfen, ob es danach bei der zuvor gebildeten Überzeugung bleibt.

III. Praktische Folgen aus anwaltlicher Sicht

Gerade die Unvollständigkeit der „Beweiswürdigung“ im oben genannten Sinne ist kein Einzelfall. Jedenfalls wenn es in den Prozess eingeführte weitere (unstreitige) Umstände gibt, die für die Überzeugungsbildung relevant sein könnten, wird sich daraus nicht selten ein „Hebel“ ergeben, um die erstinstanzlichen Feststellungen anzugreifen (ebenso Doukoff, Rn. 628). Denn die ist die Überzeugungsbildung („Beweiswürdigung“) bzw. ihre Dokumentation im Urteil (vgl. § 286 Abs. 1 Satz 2 ZPO) im unvollständig, weil sie sich auf das Ergebnis der Beweisaufnahme beschränkt und nahe liegende sonstige Umstände ignoriert, wird dies in der Regel „konkrete Anhaltspunkte“ für „Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit“ der erstinstanzlichen Feststellungen i.S.d. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO begründen. Gerade wenn eine (Zeugen-)Beweisaufnahme voraussichtlich nicht zugunsten des Mandanten ausgegangen ist, wird es außerdem in vielen Fällen sinnvoll sein, in der Verhandlung zum Ergebnis der Beweisaufnahme (§ 279 Abs. 3 ZPO) oder in einem (nicht nachgelassenen) Schriftsatz noch einmal diejenigen Umstände des „Inhalts der Verhandlung“ herauszuarbeiten, die - neben dem Ergebnis der Beweisaufnahme - für die Überzeugungsbildung des Gerichts von Bedeutung sein können.
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