OLG München: Facebook versteht Deutsch

Gebäude des OLG MünchenWann ein Zustellungsempfänger bei Auslandszustellungen nach der EuZVO die Annahme verweigern darf, weil er die Sprache des zuzustellenden Dokuments nicht versteht, war hier im Blog schon Thema. In Bezug auf Facebook hat das OLG München mit Beschluss vom 14.10.2019 – 14 W 1170/19 nun – soweit ersichtlich – als erstes OLG nähere Ausführungen dazu gemacht, wann bei juristischen Personen von einem „Verstehen“ i.S.d. Art. 8 EuZVO auszugehen ist.

Sachverhalt

Der Antragsteller nahm die Antragsgegnerin – die Facebook Ireland Ltd. – auf Unterlassung in Anspruch, einen bestimmten Kommentar zu löschen. Das Landgericht erließ die einstweilige Verfügung im Beschlusswege am 26.04.2019. Die vom Antragsteller beantragte Zustellung an die Beklagte ohne Übersetzungen verfügte das Landgericht antragsgemäß. Die Beklagte erklärte mit Schriftsatz vom 27.06.2019 (innerhalb der Frist des Art. 8 Abs. 1 EuZVO) allerdings, dass sie die Annahme verweigere, weil sie lediglich die englische Sprache verstehe. Das Landgericht hat daraufhin dem Antragsteller mitgeteilt, die einstweilige Verfügung habe nicht zugestellt werden können, da sie nicht übersetzt sei. Kein Mitglied ihrer Rechtsabteilung verfüge über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache, um gerichtliche Schriftstücke vollumfänglich zu verstehen. Die Dienstleistungen von Facebook würden in 89 Sprachen, sie verfüge aber nicht über Angestellte, die sämtliche dieser 89 Sprachen sprächen. Das Gericht forderte deshalb für eine Übersetzung einen Vorschuss von 700 EUR an. Der Antragsteller kam dem nicht nach und berief sich darauf, die Annahmeverweigerung sei gem. §§ 179 Satz 3 ZPO, 242 BGB rechtsmissbräuchlich. Das Landgericht erließ daraufhin einen Beschluss, wonach 1.) der Beschluss vom 26.04.2019 ins Englische zu übersetzen sei, 2.) die Kosten der Übersetzung der Antragsteller trage und 3.) die Übersetzung davon abhängig gemacht werde, dass der Antragsteller einen Vorschuss von 700 EUR einzahle. Dagegen wendet sich der Antragsteller mit der sofortigen Beschwerde, der das Landgericht nicht abgeholfen hat.

Es ging hier um eine Frage aus dem internationalen Verfahrensrecht, die an praktischer Bedeutung kaum zu überbieten ist: Wann muss im grenzüberschreitenden Rechtsverkehr innerhalb der europäischen Union ein Schriftstück vor der Zustellung übersetzt werden? Die Zustellung innerhalb der EU richtet sich nach der EuZVO (VO (EG) 1393/2007). Und nach dem in Artt. 5, 8 EuZVO (mittelmäßig transparent) geregelten Mechanismus entscheidet die klagende Partei darüber, ob mit oder ohne Übersetzung zugestellt wird. Der Empfänger wird dadurch geschützt, dass er gem. Art. 8 EuZVO die Annahme der Zustellung verweigern darf, wenn das Schriftstück nicht in der Amtssprache des Empfangsstaats oder einer Sprache, die er versteht, abgefasst ist. (S. zur Auslandszustellung auch ausführlich diesen Überblicksbeitrag.) Der Antragsteller hatte hier eine Zustellung ohne Übersetzungen beantragt und sich unter anderem darauf berufen, dass Facebook auf Deutsch seine Dienstleistungen anbiete und in Deutschland 31 Mio. Kunden habe. Dem hatte das Gericht entsprochen, allerdings hatte Facebook die Annahme gem. Art. 8 Abs. 1 EuZVO verweigert und sich darauf berufen, dass kein Mitarbeiter der Rechtsabteilung Deutsch spreche. Der Antragsteller hingegen vertrat die Ansicht, die Annahmeverweigerung von Facebook sei rechtsmissbräuchlich, so dass die Zustellung gem. § 179 Satz 3 ZPO wirksam sei.

Entscheidung

Das OLG München hat die Zustellung für wirksam gehalten und die sofortige Beschwerde zurückgewiesen:

„Die einstweilige Verfügung vom 26.04.2019 ist der Antragsgegnerin wirksam zugestellt worden. Die Voraussetzungen einer berechtigten Annahmeverweigerung nach Art. 8 Abs. 1 EuZustVO sind nicht erfüllt, da die Antragsgegnerin nach der Überzeugung des Beschwerdegerichts die deutsche Sprache i.S.d. Art. 8 Abs. 1 lit. a) EuZustVO versteht.

a) Die Prüfung inhaltlicher Fragen wie der Fragen, welche Sprache bzw. welche Sprachen der Empfänger eines Schriftstückes versteht, ob dem Schriftstück eine Übersetzung in eine der in Art. 8 Abs. 1 EuZustVO genannten Sprachen beizufügen ist und ob die Verweigerung der Annahme eines Schriftstücks nach dieser Vorschrift gerechtfertigt ist, fällt in die Zuständigkeit des im Übermittlungsstaat angerufenen, mit der Sache befassten Gerichts (…).

b) Im Hinblick auf den anzuwendenden Prüfungsmaßstab ist zu berücksichtigen, dass der Erlass der EuZustVO u.a. auf der Erwägung beruhte, dass für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts die Übermittlung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen, die in einem anderen Mitgliedsstaat zugestellt werden sollten, zwischen den Mitgliedsstaaten verbessert und beschleunigt werden müsste (Erwägungsgrund 2). Um die Wirksamkeit der Verordnung zu gewährleisten, sollte die Möglichkeit, die Zustellung von Schriftstücken zu verweigern, auf Ausnahmefälle beschränkt werden (Erwägungsgrund Nr. 10).

Mit dem Ziel, die Wirksamkeit und die Schnelligkeit der gerichtlichen Verfahren zu verbessern und eine ordnungsgemäße Rechtspflege zu gewährleisten, stellt die EuZustVO daher den Grundsatz einer direkten Übermittlung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke zwischen den Mitgliedstaaten auf, was eine Beschleunigung und Vereinfachung der Verfahren bewirkt. Auf diese Ziele wird auch in den Erwägungsgründen Nrn. 6 bis 8 der Verordnung hingewiesen (…).

Diese Ziele dürfen allerdings nicht dadurch erreicht werden, dass in irgendeiner Weise die Verteidigungsrechte beeinträchtigt werden, die den Empfängern der Schriftstücke aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 47 Abs. 2 EU-Grundrechte-Charta, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK) erwachsen (…).

Insoweit ist nicht nur dafür Sorge zu tragen, dass der Empfänger eines Schriftstücks das betreffende Schriftstück tatsächlich erhält, sondern auch dafür, dass er in die Lage versetzt wird, die Bedeutung und den Umfang der im Ausland gegen ihn erhobenen Klage tatsächlich und vollständig in einer Weise zu erfahren und zu verstehen, die es ihm ermöglicht, seine Rechte vor dem Gericht des Übermittlungsmitgliedsstaats wirksam geltend zu machen (…).

Unter diesem Blickwinkel ist die EuZustVO daher in der Weise auszulegen, dass in jedem Einzelfall ein angemessener Ausgleich zwischen den Interessen der Parteien gewährleistet ist, indem die Ziele der Wirksamkeit und der Schnelligkeit der Übermittlung von Verfahrensschriftstücken mit dem Erfordernis der Gewährleistung eines angemessenen Schutzes der Verteidigungsrechte des Empfängers der Schriftstücke in Einklang gebracht werden (…).

Um zu ermitteln, ob der Empfänger eines zugestellten Schriftstücks die Sprache des Übermittlungsmitgliedsstaats, in der das Schriftstück abgefasst ist, versteht, hat das Gericht sämtliche Anhaltspunkte zu prüfen, die ihm der Antragsteller hierzu unterbreitet (…).

c) Bei juristischen Personen ist nicht formaljuristisch auf die Sprachkenntnisse ihrer Organe abzustellen. Maßgeblich sind insoweit die tatsächlich im Unternehmen vorhandenen und verfügbaren Fähigkeiten, auf die der Empfänger in zumutbarer Weise zugreifen kann (…).

Betreibt ein Unternehmen in einem bestimmten Staat Geschäfte in größerem Umfang, kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass es Mitarbeiter hat, die sich um rechtliche Auseinandersetzungen mit den in diesem Staat ansässigen Kunden kümmern und jedenfalls über ausreichende Kenntnisse der Sprache verfügen, in der die Geschäfte mit den betreffenden Kunden abgewickelt werden (…).

Ferner begründet die Tatsache, dass ein Unternehmen sich zur Vertragsabwicklung in einer bestimmten Sprache verpflichtet hat, die widerlegliche Vermutung, dass auch in einem Rechtsstreit mit dem Vertragspartner Zustellungen in dieser Sprache vorgenommen werden dürfen und verstanden werden (…).

Daraus ergibt sich nicht, dass bezüglich juristischer Personen, die Geschäfte im Ausland betreiben, das Übersetzungserfordernis stets entfiele – was im Hinblick auf die Regelung des Art. 8 EuZustVO zweifelhaft erschiene (…). Vielmehr ermöglicht eine auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung die Findung eines für den jeweiligen Einzelfall sachgerechten Ergebnisses.

d) Im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtabwägung ist im konkreten Fall Folgendes zu berücksichtigen:

Nach dem Vortrag des Antragstellers verfügt die Antragsgegnerin in Deutschland über 31 Mio. Kunden. Sie unterhält ihr Angebot vollständig in deutscher Sprache und stellt alle Vertragsunterlagen (Gemeinschaftsstandards und Nutzungsbedingungen) in deutscher Sprache zur Verfügung. In Ziffer 4. ihrer Nutzungsbedingungen hat sie die Geltung deutschen Rechts und die Zuständigkeit der deutschen Gerichte in Verbrauchersachen vereinbart. Die Antragsgegnerin betreibt ferner eine deutschsprachige Homepage, auf der u.a. der vom Antragsteller zitierte NetzDG-Transparenzbericht vom 27.08.2018 eingestellt ist.

Diesen substantiierten Vortrag des Antragstellers hat die Antragsgegnerin nicht hinreichend bestritten.

Soweit sie vorträgt, die Dienstleistung von Facebook sei in vielen Ländern weltweit erhältlich und werde in 89 Sprachen angeboten, sie verfüge jedoch nicht über Angestellte, die sämtliche 89 Sprachen sprächen, ist dies unerheblich. Entscheidungsrelevant ist allein, ob die Antragsgegnerin die Möglichkeit hat, auf sachkundiges Personal zurückzugreifen, das in hinreichendem Umfang der deutschen Sprache mächtig ist.

Aufgrund des oben unter Punkt c) dargelegten Prüfungsmaßstabs kann die Antragsgegnerin sich auch nicht darauf berufen, dass kein Mitglied ihrer Rechtsabteilung die Sprachkenntnisse besitze, die erforderlich seien, um ohne Unterstützung eines externen Beraters eine Beschwerde, Gerichtsbeschlüsse oder Mitteilungen auf Deutsch vollumfänglich zu verstehen oder die Antragsgegnerin aktiv auf Deutsch zu verteidigen. Dies kann vor dem Hintergrund des o.g. Vortrags des Antragstellers – der hinsichtlich der Zahl der in Deutschland vorhandenen Facebook-Kunden, der Ausgestaltung ihrer Verträge und der sprachlichen Gestaltung der o.g. Homepage nicht bestritten worden ist – nur dahingehend verstanden werden, dass entsprechende Sprachkenntnisse (lediglich) nicht bei den in Irland beschäftigten Mitarbeitern der (dort ansässigen) Antragsgegnerin vorhanden sind.

Aufgrund des o.g. Gesamtbildes ist das Beschwerdegericht jedenfalls davon überzeugt, dass für die Betreuung deutscher Kunden – ggf. durch eine weitere zum Facebook-Konzern gehörende Gesellschaft – Mitarbeiter mit entsprechenden Sprachkenntnissen vorhanden sind. Dass derartige personelle Ressourcen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten mit deutschen Kunden nicht auch durch die Antragsgegnerin als formale Vertragspartnerin dieser Kunden genutzt werden könnten, ist für das Beschwerdegericht nicht vorstellbar, zumal davon auszugehen ist, dass bei einer Zahl von 31 Mio. in Deutschland ansässigen Facebook-Kunden Rechtsstreitigkeiten vor deutschen Gerichten in einer Größenordnung anfallen, die es schon aus wirtschaftlichen Gründen naheliegend erscheinen lässt, entsprechend qualifizierte deutschsprachige Mitarbeiter zu beschäftigen.

Dass deutschsprachige Juristen zur Bearbeitung der rechtlichen Fragestellungen, die sich im Zusammenhang mit den mit in Deutschland ansässigen Facebook-Nutzern geschlossenen Verträgen ergeben, zur Verfügung stehen, ergibt sich im Übrigen auch aus dem vom Antragsteller zitierten NetzDG-Transparenzbericht vom 27.08.2018. Nachdem dessen Inhalt von der Antragsgegnerin nicht bestritten worden ist und die Antragsgegnerin wiederum unstreitig Vertragspartnerin (auch) der in Deutschland ansässigen Facebook-Nutzer ist, lässt dies aus Sicht des Beschwerdegerichts nur den Schluss zu, dass die bezeichneten Juristen (jedenfalls auch) für die Antragsgegnerin tätig sind.“

Anmerkung

1.) Und dem kann man m.E. in der Sache nur vollumfänglich zustimmen, gerade auch in Bezug auf den vom OLG zugrunde gelegten „objektivierenden“ Maßstab und die sich daraus ergebende widerlegliche Vermutung (s. dazu auch schon Musielak/Voit/Stadler, ZPO, Art. 8 EuZVO Rn. 4). Darauf abzustellen, ob zufällig ein Mitarbeiter der Rechtsabteilung oder ein Organwalter eine Sprache spricht (so aber wohl MünchKomm-ZPO/Rauscher, Art. 8 EuZVO Rn. 12), überzeugt hingegen nicht, weil das die Zustellung mit einer ganz erheblichen Rechtsunsicherheit belastet (was ist z.B., wenn der Mitarbeiter das Unternehmen gerade verlassen hat?). Die Entscheidung dürfte wegen dieser äußerst wichtigen Klarstellung weit über sog. „Facebook-Fälle“ hinaus relevant sein (z.B. „versteht“ auch Uber kein Deutsch, wenn es um Gerichtsverfahren geht. (Siehe zum Thema ausführlich auch schon hier.) 2.) Was allerdings bei mir allerdings (bei diesem Thema wiederholt) Störgefühle verursacht, ist die verfahrensrechtliche Einkleidung der Thematik. Denn die rechtliche Grundlage des Beschlusses des Landgerichts scheint mir nicht völlig eindeutig. Richtigerweise wird darin wohl eine (nachträgliche?) Ablehnung der Zustellung ohne Übersetzung (die aber schon erfolgt ist…?) zu sehen sein. So hat es wohl auch das OLG gesehen, dass die Statthaftugkeit der sofortigen Beschwerde auf § 567 Abs. 1 Ziff. 2 ZPO stützt. Nur: Die beantragte Zustellung ohne Übersetzungen war hier ja bereits durchgeführt worden, und die vom LG abgelehnte Zustellung mit Übersetzungen hatte der Antragsteller gar nicht beantragt. M.E. hätte das Gericht gar nichts tun können oder müssen, da die Zustellung ja im Parteibetrieb und nicht von Amts wegen erfolgt. Und soweit das OLG im Tenor seines Beschlusses „feststellt“, dass der Beschluss „spätestens am 27.06.2019“ wirksam zugestellt worden sei, kann ich dafür auch keine Rechtsgrundlage erkennen. Richtiger Prüfungsort der vom OLG thematisierten Frage wäre – wenn wie hier die Zustellung durchgeführt, aber deren Wirksamkeit fraglich ist – m.E. das Widerspruchsverfahren oder das Ordnungsmittelverfahren: Wird die Aufhebung der Verfügung mangels Einhaltung der Vollziehungsfrist (§ 929 Abs. 2 ZPO) beantragt, ist die ordnungsgemäße Zustellung ebenso zu prüfen, wie vor Erlass eines Ordnungsmittelbeschlusses. Vielen Dank übrigens an RA Heinrich Schmitz, der mich auf die Entscheidung aufmerksam gemacht hat! tl;dr: 1. Im Rahmen von Art. 8 EuZVO ist bei juristischen Personen nicht formaljuristisch auf die Sprachkenntnisse der Organe oder der Mitarbeiter der Rechtsabteilung abzustellen; maßgeblich sind insoweit die tatsächlich im Unternehmen vorhandenen und verfügbaren Fähigkeiten, auf die der Empfänger in zumutbarer Weise zugreifen kann. 2. Dass ein Unternehmen sich zur Vertragsabwicklung in einer bestimmten Sprache verpflichtet hat, begründet die widerlegliche Vermutung, dass auch in einem Rechtsstreit mit dem Vertragspartner Zustellungen in dieser Sprache vorgenommen werden dürfen und verstanden werden. Anmerkung/Besprechung, OLG München, Beschluss vom 14.10.2019 – 14 W 1170/19. Foto: Photo by Kon Karampelas on Unsplash