„Akteneinsicht“ in Protokollaufzeichnung?

Können die Parteien eine vorläufige Protokollaufzeichnung stets im Wege der Akteneinsicht abhören? Oder bedarf es dafür eines besonderen rechtlichen Interesses? Damit hat sich kürzlich das OLG Stuttgart in einem Beschluss vom 08.04.2021 – 19 W 11/21 befasst. Und die Ausführungen bieten einen guten Anlass, über die Protokollvorschriften in § 160a ZPO und ihr Verhältnis zu § 128a Abs. 3 Satz 1 ZPO näher nachzudenken.

Sachverhalt

Die Klägerin begehrte Akteneinsicht in die vorläufige Protokollaufzeichnung i.S.d. § 160a ZPO (also das „Vorsitzendendiktat“), wollte dies also anhören. Hintergrund war ein Protokollberichtigungsantrag der Klägerin: Im (schriftlichen) Protokoll war vermerkt, der Klägervertreter habe im Termin die Abstandnahme vom Urkundenprozess erklärt. Die Klägerin machte aber geltend, das habe ihr Prozessbevollmächtigter im Termin nicht erklärt (und, sinngemäß: das finde sich auch nicht im „Vorsitzendendiktat“). Das Landgericht hatte das Einsichtsgesuch zurückgewiesen, wogegen sich die Klägerin mit der sofortigen Beschwerde wandte.

Das Protokoll (§§ 159 ff. ZPO) wird praktisch in fast allen Fällen so erstellt, dass der oder die Vorsitzende den Inhalt des Protokolls als (digitales) Diktat vorläufig aufzeichnet (§ 160a Abs. 1 ZPO). In Anschluss an die Verhandlung wird dies abgetippt und dann in schriftlicher Form Aktenbestandteil (§ 160a Abs. 2 Satz 1 ZPO). Die Klägerin machte hier geltend, dass schriftliche Protokoll sei falsch und beantragte dessen Berichtigung (§ 164 ZPO). Dazu wollte sie die Tonträgeraufzeichnung (also die Tondatei) anhören um zu kontrollieren, ob der Inhalt des schriftlichen Protokolls mit der vorläufigen Aufzeichnung übereinstimmte. Das hatte das Landgericht abgelehnt.

Entscheidung

Das OLG hat den Beschluss des Landgerichts abgeändert und dem Einsichtsgesuch stattgegeben.

„Der Klägerin steht als Bestandteil ihres Akteneinsichtsrechts gemäß § 299 Abs. 1 ZPO das Recht auf Abhören der vorläufigen Aufzeichnung des Protokolls der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht zu.

a. Die vorläufige Aufzeichnung des Protokolls (§ 160a Abs. 1 ZPO) unterliegt nach Auffassung des Oberlandesgerichts Karlsruhe (…) und – soweit ersichtlich – einhelliger Auffassung in der Literatur der Akteneinsicht gemäß § 299 Abs. 1 ZPO (…), ggf. als „Abhörrecht“ auf der Geschäftsstelle (…).

b. Davon abweichend wird in einer Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt (vgl. OLG Frankfurt, Urteil vom 14. Oktober 2016 – 10 U 64/16…) vertreten, das Akteneinsichtsrecht gemäß § 299 Abs. 1 ZPO könne unmittelbar zur Begründung eines Rechts auf Abhören der vorläufigen Protokollaufzeichnung nicht herangezogen werden, da bei § 299 Abs. 1 ZPO ein berechtigtes Interesse regelmäßig (deshalb) anzunehmen sei, weil die Partei den gesamten Akteninhalt nicht kennen und sie nur durch das Einsehen der Prozessakten ersehen könne, wie sich die Sach- und Rechtslage zu der gegebenen Zeit darstelle und ein berechtigtes Interesse am Abhören der vorläufigen Tonträgeraufzeichnung allenfalls dann gegeben sei, wenn die eigene Wahrnehmung der Partei von dem Sitzungsverlauf nicht ausreiche, um die Richtigkeit des Protokolls im Hinblick auf § 164 ZPO prüfen zu können.

c. Zutreffend ist die zuerst genannte Auffassung.

Das von der abweichenden Meinung für das Abhörrecht verlangte berechtigte Interesse der Partei ist dem Wortlaut und der Systematik der gesetzlichen Regelungen betreffend die Anfertigung (§§ 160 f. ZPO) und ggf. Korrektur des Protokolls (§ 164 ZPO) nicht zu entnehmen.

aa. Schon ausgehend vom Wortlaut des § 160a Abs. 3 Satz 1 ZPO ist die vorläufige Aufzeichnung – sofern sie sich dazu eignet, also in Papierform existiert oder etwa Tonbänder in Hülle (…) – zu den Prozessakten zu nehmen, mithin zunächst - bis zur Löschung (§ 160a Abs. 3 Satz 2 ZPO) – uneingeschränkt Bestandteil der Prozessakten.

Die Prozessakten können jedoch von den Parteien - während des laufenden Verfahrens - ohne weitere Voraussetzungen eingesehen werden, § 299 Abs. 1 ZPO (…). Das Akteneinsichtsrecht nach § 299 Abs. 1 ZPO dient der Prozessführung und besteht fort, bis das betreffende Verfahren endgültig abgeschlossen ist (…).

Nur denjenigen Personen, die nicht Partei sind, darf gem. § 299 Abs. 2 ZPO Akteneinsicht nur gewährt werden, wenn alle Parteien zustimmen oder wenn sie ein rechtliches Interesse glaubhaft machen. Entsprechendes gilt, wenn eine Partei nach Abschluss des Verfahrens Akteneinsicht begehrt (…).

bb. Die Berichtigung des endgültig hergestellten Protokolls (vgl. §§ 160a Abs. 2, 160 ZPO) ist in § 164 ZPO geregelt. Bei Abweichungen zwischen Sitzungsniederschrift und vorläufiger Aufzeichnung, auf deren Grundlage das Protokoll erstellt wurde, gilt die Beweiskraft (§ 165 ZPO) für das Protokoll, welches aber ggf. zu berichtigen ist, § 164 ZPO (…). Mit der vorläufigen Aufzeichnung kann der Beweis geführt werden, dass unrichtig protokolliert worden ist, § 415 Abs. 2 ZPO (…).

Das Akteneinsichtsrecht der Partei gemäß § 299 Abs. 1 ZPO ermöglicht der Partei mithin auch den Zugriff auf das in den Prozessakten befindliche Beweismittel der vorläufigen Aufzeichnung des Protokolls, um ggf. eine Protokollberichtigung herbeiführen zu können.

Dies ist auch im Streitfall das Begehren der Klägerin.

cc. Es ist nicht gerechtfertigt, der Partei das Abhören der vorläufigen Protokollaufzeichnung - als Bestandteil des Akteneinsichtsrechts - durch die Voraussetzung, sie müsse zunächst ein berechtigtes Interesse für die Akteneinsicht dartun, zu erschweren.

Die Tatsache, dass die Partei regelmäßig den Inhalt und Verlauf der mündlichen Verhandlung selbst wahrnehmen kann, ist kein überzeugendes Argument für die Notwendigkeit eines besonderen Interesses am Abhören der vorläufigen Protokollaufzeichnung. Auch den Inhalt der Prozessakten im Übrigen kennt eine Partei in der Regel zumindest ganz überwiegend, da die Schriftsätze der Parteien und Verfügungen des Gerichts beidseits bekannt gemacht werden. Zudem mag die Partei die vorläufige Protokollierung einzelner Vorgänge des Sitzungsverlaufs nicht selbst wahrgenommen haben, ohne dass ihr dies in jedem Fall vorgeworfen werden kann.

dd. Im Ergebnis ist mit der im Gesetz angelegten Erstreckung des Akteneinsichtsrechts gemäß § 299 Abs. 1 ZPO auf die vorläufige Protokollaufzeichnung sichergestellt, dass die Parteien sich über dessen Inhalt unschwer Gewissheit verschaffen können und ggf. Zweifel am Inhalt des endgültigen Protokolls zeitnah und verlässlich geklärt werden können.“

Anmerkung

Die Rechtsbeschwerde hat das OLG übrigens nicht zugelassen, weil es auf die Divergenz mit dem OLG Frankfurt hier nicht ankomme. Denn aufgrund des Protokollberichtigungsantrags liege auch das vom OLG Frankfurt geforderte berechtigtes Interesse vor. Die Entscheidung ist ein guter Anlass, noch einmal zu gegenwärtigen, dass die Protokollaufzeichnung i.S.d. § 160a Abs. 1 ZPO nur der Form nach „vorläufig“ ist, nicht aber nach ihrem Inhalt (s. nur BeckOK-ZPO/Wendtland, § 160a Rn. 4; Zöller/Schultzky, § 160a Rn. 2a). Selbst wenn der Klägervertreter die Abstandnahme im Termin erklärt hätte, dies aber irrtümlich nich diktiert worden wäre, dürfte das Gericht dies deshalb nicht nachträglich im schriftlichen Protokoll (und wohl auch nicht im Wege der Protokollberichtigung ergänzen) ergänzen. Interessant ist auch, dass das OLG lediglich gestattet hat, die Aufzeichnung „auf der Geschäftsstelle abzuhören“. Das hat seinen Hintergrund darin, dass nach h.M. eine Vervielfältigung oder „Überlassung“ unzulässig bzw. von der Zustimmung der Beteiligten abhängig sein soll (s. z.B. MünchKommZPO/Fritsche, § 160a Rn. 9 ff.; Zöller/Schultzky, § 160a Rn. 10). Und die Entscheidung ist interessant, weil sie den Blick auf die Möglichkeiten des § 160a ZPO lenkt, die mit einer zunehmenden Zahl von Videoverhandlungen und der (jedenfalls in manchen Ländern) vorangehenden technischen Ausstattung deutlich an Bedeutung gewinnen könnten (s. dazu ausführlich Spoenle, RDi 2021, 231 ff.). Denn § 160a ZPO lässt neben der Aufzeichnung des „Vorsitzendendiktats“ auch eine unmittelbare Aufzeichnung zu, d.h. einen Tonmitschnitt beispielsweise einer Zeugenvernehmung (s. Natter/Mohn/Hablitzel, NJOZ 2013, 1041, zum Verhältnis zu § 128a Abs. 3 Satz 1 ZPO s. Spoenle, aaO). Gerade bei Verhandlungen und Vernehmungen im Wege der Bild- und Tonübertragung ist dies inzwischen technisch oft ohne größere Probleme möglich (Spoenle, aaO). Eine solche unmittelbare Aufzeichnung muss dann übrigens gem. § 160a Abs. 2 Satz 4 ZPO nicht vollständig transkribiert werden, solange das wesentliche Ergebnis im Protokoll (i.e. „Vorsitzendendiktat“) ist. tl;dr: Das Akteneinsichtsrecht der Prozessparteien gemäß § 299 Abs. 1 ZPO umfasst auch das Recht auf Abhören der vorläufigen Protokollaufzeichnung (§ 160a Abs. 1, Abs. 3 Satz 1 ZPO) bis zu deren Löschung (§ 160a Abs. 3 Satz 2 ZPO). Anmerkung/Besprechung, OLG Stuttgart, Beschluss vom 08.04.2021 – 19 W 11/21. Foto: Kamahele0009-Stuttgart-FreimannCC BY-SA 3.0 DE