BGH: Auch Rückrufkosten können unter § 945 ZPO fallen

BGH_Empfangsgebäude ComQuat wikimedia.org CC BY-SA 3.0Die zeitlichen Grenzen des Schadensersatzanspruchs aus § 945 ZPO hat der Bundesgerichtshof vor knapp zwei Jahren mit Urteil vom 10.07.2014 - I ZR 249/12 („Nero“) näher bestimmt (s. dazu hier).

Mit erst kürzlich veröffentlichtem Urteil vom 19.11.2015 – I ZR 109/14 („Hot Socks“) hat sich der Bundesgerichtshof nun näher damit befasst, welche Schäden auf der Grundlage von § 945 ZPO ersetzt werden können.
Sachverhalt

Sowohl die Klägerin als auch die Beklagte vertreiben als Sonderpostenhändler Pantoffeln aus Fleece-Material mit einer Füllung, die in der Mikrowelle erwärmt werden kann. Die Beklagte hielt die von der Klägerin vertriebenen Pantoffeln für unlautere Nachahmungen ihres Produkts und erwirkte am 07.12.2010 eine einstweilige Verfügung des Landgerichts Hamburg, in welcher der Klägerin unter Androhung von Ordnungsmitteln verboten wurde, solche Pantoffeln anzubieten, zu bewerben, zu importieren und/oder in den Verkehr zu bringen. Auf den Widerspruch der Klägerin hin wurde die einstweilige Verfügung mit rechtskräftigem Urteil des Landgerichts Hamburg vom 16.02.2011 aufgehoben.

Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin nun gestützt auf § 945 ZPO von der Beklagten den Ersatz des Schadens, der ihr dadurch entstanden ist, dass sie a) erhebliche Mengen an Wärmepantoffeln nicht verkaufen konnte und b) bereits ausgelieferte Ware zurückholen musste. Das Landgericht gab der Klage nur insoweit statt, als der Schaden darauf beruhte, dass die Klägerin Ware nicht verkaufen konnte. Die Kosten für die Rückholung der Waren seien hingegen nicht von § 945 ZPO erfasst.

Das OLG wies die Klage insgesamt ab, und begründete dies damit, dass die auf den Widerspruch aufgehobene Untersagungsverfügung des Landgerichts Hamburg (eigentlich) rechtmäßig gewesen sei.

Die Beklagte hatte (mit umgekehrten Parteirollen) eine einstweilige Verfügung erwirkt, mit welcher der Beklagten aufgrund von §§ 8, 3, 4 Nr. 9 lit. a UWG verboten worden war, bestimmte Produkte zu vertreiben. Die einstweilige Verfügung war ohne Anhörung der Klägerin durch Beschluss ergangen. Die Verfügung hatte die Beklagte der Klägerin zur Vollziehung zugestellt (vgl. § 929 Abs. 2 ZPO), was Voraussetzung der Vollstreckung ist.

Gegen die einstweilige Verfügung hatte die Klägerin gem. §§ 936 i.V.m. 924 ZPO Widerspruch eingelegt. Auf den Widerspruch war mündlich verhandelt worden. Das Landgericht hatte seine Auffassung geändert und die einstweilige Verfügung (durch Urteil aufgehoben, vgl. §§ 936 i.V.m. 925 ZPO. Dieses Urteil hatte die Beklagte rechtkräftig werden lassen (!).

Der Klägerin war aber ein erheblicher Schaden dadurch entstanden, dass ihr – vollstreckbar – verboten worden war, die Pantoffeln zu vertreiben, und sie diese sogar zurückrufen musste (denn ihr war ja auch verboten worden, diese in Verkehr zu bringen). Diesen Schaden verlangte sie nun von der Beklagten ersetzt.

§ 945 ZPO sieht eine Gefährdungshaftung für solche Schäden vor, die durch die Vollstreckung aus einer später aufgehobenen einstweiligen Verfügung entstehen. Damit wird ein Ausgleich dafür geschaffen, dass dem Gläubiger aus einer nicht endgültig geprüften Entscheidung der Zugriff auf das Vermögen des Schuldners ermöglicht wird (ebenso haftet deshalb gem. § 717 Abs. 2 ZPO derjenige, der aus einem nur für vorläufig vollstreckbar erklärten Urteil vollstreckt).

Fraglich war nun, ob der von der Klägerin geltend gemachte Schaden auch unter § 945 ZPO fiel.

Entscheidung

Der BGH hat das Urteil des OLG aufgehoben:

„Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann ein Schadensersatzanspruch der Klägerin gegen die Beklagte nicht verneint werden.

1. Nach § 945 Fall 1 ZPO ist die Partei, die eine von Anfang an ungerechtfertigte einstweilige Verfügung erwirkt hat, verpflichtet, dem Gegner den Schaden zu ersetzen, der ihm aus deren Vollziehung entsteht. Die Vorschrift des § 945 ZPO beruht auf dem Rechtsgedanken, dass die Vollstreckung aus einem noch nicht endgültigen Vollstreckungstitel auf Gefahr des Gläubigers erfolgt […].

2. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts war die von der Beklagten erwirkte einstweilige Verfügung vom 7. Dezember 2010 von Anfang an ungerechtfertigt.

a) Im Streitfall kann dahinstehen, ob die einstweilige Verfügung bereits deshalb als von Anfang an ungerechtfertigt im Sinne des § 945 ZPO anzusehen ist, weil das Landgericht Hamburg diese Verfügung durch rechtskräftiges Urteil vom 16. Februar 2011 aufgehoben hat. Von einer entsprechenden Bindungswirkung sind das Reichsgericht […] und der Bundesgerichtshof in älteren Entscheidungen ausgegangen […]. Der Senat hat die umstrittene Frage, ob eine Entscheidung im summarischen Verfahren, durch die eine einstweilige Verfügung (formell rechtskräftig) als unbegründet aufgehoben worden ist, das Gericht im Schadensersatzprozess bindet, bislang offengelassen […]. Diese Frage muss auch im Streitfall nicht entschieden werden.

b) Nach der Annahme des Berufungsgerichts hat das Landgericht Hamburg die einstweilige Verfügung zu Recht erlassen und fälschlicherweise mit rechtskräftigem Urteil vom 16. Februar 2011 wieder aufgehoben, weil der Beklagten der im Verfügungsverfahren verfolgte Unterlassungsanspruch gemäß § 8 Abs. 1, §§ 3, 4 Nr. 9 Buchst. a UWG nach Ansicht des Berufungsgerichts zustand. Das hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand. [wird ausgeführt]“

Und im Rahmen der Zurückverweisung folgt dann die eigentlich relevante und sehr ausführliche „Segelanleitung“:

„Für das weitere Verfahren wird auf Folgendes hingewiesen:

1. Da der Beklagten kein den Erlass der einstweiligen Verfügung rechtfertigender Unterlassungsanspruch zugestanden hat, ist von einem dem Grunde nach bestehenden Schadensersatzanspruch der Klägerin gemäß § 945 Fall 1 ZPO auszugehen.

2. Das Berufungsgericht wird deshalb zu prüfen haben, ob der Klägerin ein Schadensersatzanspruch in der von ihr geltend gemachten Höhe zusteht.

a) Dabei kann ein Schaden der Klägerin wegen der durch die Rückholung bereits ausgelieferter Wärmepantoffeln aus dem Einzel- und Großhandel verursachten Kosten entgegen der Ansicht des Landgerichts nicht von vornherein verneint werden.

aa) Die Verpflichtung zur Unterlassung einer Handlung, durch die ein fortdauernder Störungszustand geschaffen wurde, ist mangels abweichender Anhaltspunkte regelmäßig dahin auszulegen, dass sie nicht nur die Unterlassung derartiger Handlungen, sondern auch die Vornahme möglicher und zumutbarer Handlungen zur Beseitigung des Störungszustands umfasst […].

bb) Der Klägerin war durch die einstweilige Verfügung des Landgerichts Hamburg vom 7. Dezember 2010 verboten worden, ihre Wärmepantoffeln anzubieten, zu bewerben, zu importieren und/oder in den Verkehr zu bringen.

In Befolgung dieses Verbots war die Klägerin nicht nur verpflichtet, den weiteren Vertrieb ihrer noch nicht verkauften Wärmepantoffeln einzustellen. Es oblag ihr auch, bereits an den Groß- und Einzelhandel verkaufte Wärmepantoffeln zurückzurufen.“

tl;dr: Zum nach § 945 ZPO ersatzfähigen Schaden können auch Kosten gehören, die der Beseitigung eines Störungszustandes dienen, der durch die zu unterlassende Handlung verursacht ist.

Anmerkung/Besprechung, BGH, Urteil v. 19.11.2015 – I ZR 109/14. Foto: ComQuat |wikimedia.org | CC BY-SA 3.0