BGH zur Behauptung lediglich vermuteter Tatsachen

Die Zulässigkeit einer Entscheidung ohne Beweisaufnahme mit der Begründung, eine Behauptung erfolge unzulässigerweise „ins Blaue hinein“, war hier kürzlich am Rande noch Thema. Im Zusammenhang mit einer geradezu lehrbuchmäßigen  „Indizienkette“ hat sich der Bundesgerichtshof auch mit Beschluss vom 26.03.2019 – VI ZR 163/17 sehr lesenswert damit befasst, wann eine Partei ihren Sachvortrag auf Vermutungen stützen  darf und wann sie damit ihrer Darlegungslast genügt hat.

Sachverhalt

Der Kläger arbeitet bei einem städtischen Bauhof, in dessen Nachbarschaft sich ein Werk der Beklagten befindet, in dem Maschinen gefertigt werden. Seit 2011 leidet der Kläger an Atemwegsbeschwerden, schließlich wurde eine Berylliose festgestellt. Dabei handelt es sich um eine auf eine Exposition mit Beryllium zurückzuführende Erkrankung, ein seltener Stoff, der u.a. in der metallverarbeitenden Industrie eingesetzt wird. Der Kläger behauptet, die Beklagte verwende in ihrem Produktionsprozess berylliumhaltige Materialien oder Werkstoffe. Es sei 2010 und 2011 wiederholt zu massiven Staubemissionen aus dem Betrieb der Beklagten gekommen, weil die Filteranlage defekt gewesen sei. Bis 2011 habe er keine Krankheitssymptome gezeigt. Seit 2011 seien neben ihm auch vier Kollegen an einer Berylliumsensibilisierung erkrankt. Zum Beweis seiner Ausführungen hat der Kläger beantragt, den Geschäftsführer der Beklagten zu vernehmen, ein Sachverständigengutachten einzuholen sowie der Beklagten gem. § 142 ZPO aufzugeben, ihre Materialeinkaufslisten vorzulegen. Landgericht und Oberlandesgericht haben die Klage ohne Beweisaufnahme abgewiesen. Die angebotenen Beweise seien nicht zu erheben. Die Beklagte habe detailliert dazu vorgetragen, dass in ihrem Betrieb keine berylliumhaltigen Materialien verarbeitet würden. Es sei deshalb an dem Kläger, insoweit konkrete Tatsachen vorzutragen und hierfür Beweis anzubieten. Ohne diese Präzisierung stelle die Vernehmung des vom Kläger benannten Zeugen oder die Parteivernehmung des Geschäftsführers der Beklagten eine unzulässige Ausforschung dar. Die beantragte Vorlage der Materialeinkaufslisten könne das Gericht nicht anordnen, weil § 142 Abs. 1 i.V.m. § 422 ZPO voraussetze, dass der Beweisführer nach bürgerlichem Recht einen Anspruch auf die Herausgabe oder Vorlage der fraglichen Urkunde habe. Ein solcher Anspruch steht dem Kläger aber nicht zu.

Die Entscheidung ist gerade auch aus Ausbildungsperspektive spannend. Denn es geht hier um eine sog. Hilfsbeweis: Der Kläger kann nicht beweisen, welche Partikel genau seiner Erkrankung hervorgerufen haben. Wenn es aber so ist, dass
  1. die Beklagte berylliumhaltige Materialien verwendet
  2. 2010 und 2011 die Filteranlage kaputt war und berylliumhaltiger Staub über den Arbeitsort des Klägers hinweggezogen ist und
  3. der Kläger und vier seiner am selben Ort arbeitenden Kollegen im Jahr 2011 an durch Beryllium verursachten Erkrankungen erkrankt sind,
dann dürfte dies den hinreichend sicheren Schluss darauf zulassen, dass Berylliumemissionen aus dem Betrieb des Beklagten die Gesundheitsschäden des Klägers verursacht haben und diese dem Kläger gem. § 823 Abs. 1 BGB zum Schadensersatz verpflichtet sind. Das setzt aber voraus, dass der Kläger die genannten Hilfstatsachen (Indizien) beweist, soweit sie bestritten werden, insbesondere, dass im Betrieb der Beklagten tatsächlich berylliumhaltige Materialien verarbeitet wurden. Dazu konnte der Kläger ersichtlich nicht detailliert vortragen, weil sich die Betriebsabläufe der Beklagten seiner Wahrnehmung entzogen. Fraglich war deshalb, ob der Kläger die allgemeine Vermutung aufstellen durfte, im Betrieb der Beklagten werde Beryllium verwendet, ohne konkrete Materialien oder Werkstoffe zu benennen. Nur dann musste das Gericht dem Antrag auf Vernehmung des Geschäftsführers der Beklagten nachkommen, anderenfalls handelte es sich dabei um prozessual unzulässige Ausforschung. Letzteres hatten hier die Vorinstanzen angenommen und die Klage ohne Beweisaufnahme abgewiesen.

Entscheidung

Der VI. Zivilsenat hat das Urteil auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wegen einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gem. § 544 Abs. 7 ZPO aufgehoben und die Sache zurückverwiesen:

„a) Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, den entscheidungserheblichen Sachvortrag der Partei in der nach Art. 103 GG gebotenen Weise zur Kenntnis zu nehmen und die angebotenen Beweise zu erheben (…).

Ein Sachvortrag zur Begründung eines Anspruchs ist dann schlüssig und erheblich, wenn die Partei Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet und erforderlich sind, das geltend gemachte Recht als in der Person der Partei entstanden erscheinen zu lassen. Die Angabe näherer Einzelheiten ist nicht erforderlich, soweit diese für die Rechtsfolgen nicht von Bedeutung sind. Das Gericht muss nur in die Lage versetzt werden, aufgrund des tatsächlichen Vorbringens der Partei zu entscheiden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für das Bestehen des geltend gemachten Rechts vorliegen.

Sind diese Anforderungen erfüllt, ist es Sache des Tatrichters, in die Beweisaufnahme einzutreten und dabei gegebenenfalls die benannten Zeugen oder die zu vernehmende Partei nach weiteren Einzelheiten zu befragen oder einem Sachverständigen die beweiserheblichen Streitfragen zu unterbreiten (…).

b) Wie die Nichtzulassungsbeschwerde mit Recht beanstandet, hat das Berufungsgericht hiergegen verstoßen, indem es den Sachvortrag des Klägers als nicht hinreichend konkret angesehen und deshalb eine Beweisaufnahme abgelehnt hat.

Jedenfalls dem Antrag auf Parteivernehmung des Geschäftsführers der Beklagten wäre nachzukommen gewesen.

aa) Entgegen der Einschätzung des Berufungsgerichts ist der Vortrag des Klägers nicht schon wegen nicht hinreichender Substantiierung unschlüssig. Der Kläger hat vielmehr nach den oben angeführten Maßstäben eine im Fall ihrer Erweislichkeit die Tatbestandsmerkmale des § 823 Abs. 1 BGB erfüllende Indizienkette vorgetragen.

Dabei durfte er sich auch auf nur vermutete Tatsachen stützen, denn er kann mangels Sachkunde und Einblick in die Produktionsabläufe der Beklagten keine sichere Kenntnis von Einzeltatsachen haben, weswegen er diese als Vermutungen in den Rechtsstreit einführen können muss (...). Ein Vortrag „ins Blaue hinein“ oder „aufs Geratewohl“ auf der Basis von Vermutungen liegt angesichts der vom Kläger angeführten Anhaltspunkte, insbesondere der Erkrankung seiner Person sowie weiterer Kollegen und der Nähe deren Beschäftigungsortes zum Werk der Beklagten, nicht vor (…).

Soweit das Berufungsgericht aufgrund des Klägervortrags eine Verpflichtung der Beklagten angenommen hat, im Rahmen ihrer sekundären Darlegungslast näher zu ihren Produktionsabläufen vorzutragen, geht es in einem ersten Schritt zu Recht von der Schlüssigkeit des Klägervortrags aus. Das Berufungsgericht durfte aber nach dem daraufhin erfolgten, bestreitenden Vortrag der Beklagten den Eintritt in die Beweisaufnahme nicht von einer weiteren Präzisierung des Klägervortrags abhängig machen.

Ob der bestreitende Vortrag der Beklagten insoweit – wie das Berufungsgericht meint – den Anforderungen der sekundären Darlegungslast genügt, kann dabei offenbleiben, denn das Berufungsgericht hat mit seiner Forderung nach präziserem Vortrag die Anforderungen an die Substantiierung des klägerischen Vorbringens überspannt.

bb) Ein hinreichendes Bestreiten der Beklagten vorausgesetzt, hätte das Berufungsgericht jedenfalls die vom Kläger beantragte Vernehmung des Geschäftsführers der Beklagten als Partei durchführen müssen. In dieser Parteivernehmung liegt keine unzulässige Ausforschung. Vielmehr ist dem Kläger Gelegenheit zu geben, für seine Behauptung, im Betrieb der Beklagten werde Beryllium verwendet, den Wahrheitsbeweis zu führen.

Die Vernehmung des Geschäftsführers der Beklagten als Partei nach § 445 ZPO ist dabei kein von vornherein ungeeignetes Beweismittel.“

Anmerkung

Der Senat führt dann in seiner „Segelanweisung“ außerdem noch aus, dass das Berufungsgericht auch den Antrag des Klägers auf Vorlage der Einkaufslisten nach § 142 ZPO nicht mit der gegebenen Begründung hätte ablehnen dürfen. Denn eine Vorlageanordnung nach § 142 ZPO setze gerade keinen materiell-rechtlichen Auskunfts- oder Herausgabeanspruch voraus. Den erforderlichen schlüssigen Vortrag zur den Einkaufslisten habe der Kläger gehalten, denn aus diesen könne ersehen werden, ob die Beklagte berylliumhaltige Materialien eingekauft hat. Das Berufungsgericht sei deshalb verpflichtet gewesen, darzustellen, aufgrund welcher Ermessenserwägungen es von einer Vorlageanordnung abgesehen hat. tl;dr: Bei der Annahme, ein Vortrag „ins Blaue hinein“ oder „aufs Geratewohl“ ist Zurückhaltung geboten. Jedenfalls bei konkreten Anhaltspunkten darf eine Partei ihren Vortrag  auch auf nur vermutete Tatsachen stützen, wenn sie mangels Sachkunde oder mangels Einblick in Abläufe in der Sphäre des Gegners keine Sichere Kenntnis von Einzeltatsachen hat.  Anmerkung/Besprechung, BGH, Beschluss vom 26.03.2019 – VI ZR 163/17. Foto: ComQuat, BGH - Palais 1, CC BY-SA 3.0