BGH: Keine „Anrufung“ eines Gerichts i.S.d. Art. 30 EuGVVO ohne vollständige Anschrift

BGH_Empfangsgebäude ComQuat wikimedia.org CC BY-SA 3.0Die „Torpedoklage“ – oder jedenfalls der Versuch einer solchen – der Porsche SE im Zusammenhang mit den Anlegerklagen mehrerer Investmentfonds war hier schon vor längerer Zeit Thema.

Mit für die Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung vorgesehenem Beschluss vom 13.09.2016 – VI ZB 21/15 hat nun der BGH entschieden und in diesem Zusammenhang die Anforderungen an eine „Anrufung“ i.S.d. Art. 32 Abs. 1 EuGVVO konkretisiert.

Sachverhalt

Die Beklagten, zwei Investmentgesellschaften mit Sitz auf den Cayman-Islands bzw. London kündigten mit Schreiben ihrer britischen Prozessbevollmächtigten vom 10.02.2012 und 28.02.2012 an, vor dem High Court of England and Wales (in London) Schadensersatzansprüche gegen die Klägerin wegen unrichtiger Kapitalmarktinformationen im Zusammenhang mit der Übernahme von VW durch die Beklagte geltend zu machen. Die angekündigte Klage auf Schadensersatz in Höhe von 194.900.000 USD reichten die Beklagten am 18.06.2012 beim High Court of Justice in London ein.

Bereits am 07.06.2012 – und damit wenige Tage vorher – ging beim Landgericht Stuttgart eine negative Feststellungklage der Klägerin ein. Am 11.02.2016 zahlte die Klägerin den Vorschuss ein. Mit Verfügung vom 02.07.2012 ordnete das Landgericht das schriftliche Vorverfahren an. Die Verfügung vom 02.07.2012 wurde zusammen mit Abschriften übersetzt und am 21.08.2012 der Post zum Zwecke der Zustellung per Einschreiben mit Rückschein übergeben, wobei das Landgericht die Anschrift um den Zusatz „USA“ (sic!) ergänzte. In der in der Klageschrift angegebenen Anschrift waren weder die Insel der Cayman Islands, noch der Ort oder eine Postleitzahl angegeben. Die Zustellung ging fehl, der Verbleib der Sendung konnte nicht ermittelt werden.

Auf Hinweis des Gerichts, dass die Klägerin den gesetzlichen Vertreter nicht angegeben habe, ergänzte die Klägerin die Anschrift und gab die Insel und den Ort, nach wie vor aber keine Postleitzahl an. Diese zweite Zustellung wurde vom Postamt der Cayman Islands mit der Bemerkung „incomplete address“ zurückgesandt. Mit Schriftsatz vom 14.01.2013 ergänzte die Klägerin die Anschrift schließlich um eine Postleitzahl.

Die Klageschrift wurde auf Anregung der Prozessbevollmächtigten der Klägerin außerdem auch der Post zur Zustellung an die den vorprozessual beauftragten britischen Prozessbevollmächtigten der Beklagten übergeben. Am 04.09.2012 teilten die britischen Prozessbevollmächtigten mit, dass die Klage ihnen zwar zugegangen sei, sie jedoch nicht zustellungsbevollmächtigt seien.

Das Landgericht Stuttgart lehnte den auf Art. 29 EuGVVO (Art. 27 EuGVVO a.F.) gestützten Aussetzungsantrag ab. Die dagegen gerichtete Beschwerde (§ 252 ZPO analog) hatte vor dem OLG Stuttgart keinen Erfolg (Beschluss vom 30.01.2015 – 5 W 48/13).

Das Londoner Gericht hätte hier seinen Prozess gem. Art. 29 Abs. 1 EuGVVO aussetzen müssen, wenn das LG Stuttgart zuerst i.S.d. Art. 32 EuGVVO „angerufen“ worden wäre. Die Klageschrift war hier beim LG Stuttgart zwar zuerst eingegangen, fraglich war aber, ob Porsche auch gem. Art. 32 Abs. 1 Nr. 1 EuGVVO „es in der Folge nicht versäumt hat, die ihm obliegenden Maßnahmen zu treffen, um die Zustellung des Schriftstücks an den Beklagten zu bewirken“. Genau das war hier fraglich.

Porsches Prozessstrategie wird landläufig auch als „Torpedoklage“ bezeichnet: Die (potentiell) beklagte Partei erhebt eine negative Feststellungsklage in einem Land, in dem sie davon ausgeht, prozessuale Vorteile zu haben. Im gewerblichen Rechtsschutz waren lange Klagen vor italienischen Gerichten beliebt (sog. „italian torpedoes"), weil die Gerichte dort bekanntermaßen langsam arbeiten (was für die beklagte Partei ja i.d.R. vorteilhaft ist). Hier fürchtete Porsche aber wohl vor allem das britische Prozessrecht, das es den Beklagten ermöglicht hätte, im Wege der „discovery“ viele Geschäftsunterlagen einzusehen. Deshalb wollte Porsche mit der negativen Feststellungklage die Prozesse „nach Deutschland holen“ (und ggf. ging Porsche auch davon aus, dass ihnen die Stuttgarter Gerichte durchaus wohlgesonnen sein könnten).

Das setzte aber – wie gesagt – voraus, dass Porsche die Voraussetzungen von Art. 32 Abs. 1 EuGVVO erfüllt hatte.

Entscheidung

1. Der BGH stellt zunächst klar, dass die EuGVVO anwendbar sei, auch wenn die Beklagte zu 1 ihren Sitz auf den Cayman Islands habe. Artt. 29 ff. EuGVVO verlangten lediglich eine Identität der Parteien und des Verfahrensgegenstands der bei den Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten anhängigen Rechtsstreitigkeiten. Den Sitz der Parteien erwähnten die einschlägigen Vorschriften der EuGVVO nicht.

2. Mit der angegebenen Begründung könne das OLG aber nicht annehmen, dass das LG Stuttgart das zuerst angerufene Gericht sei.

Art. 30 EuGVVO […] lässt für die Anrufung im Sinne des Art. 27 EuGVVO aF die Vornahme eines von zwei Verfahrensschritten – Einreichung des verfahrenseinleitenden Schriftstücks bei Gericht oder Zustellung des Schriftstücks beim Beklagten – genügen, sofern der Kläger alle erforderlichen Maßnahmen getroffen hat, um sicherzustellen, dass auch der zweite Verfahrensschritt bewirkt und die endgültige Rechtshängigkeit („saisine définitive“) herbeigeführt wird […].

Ob das Schriftstück in der Folge auch zugestellt (Nr. 1) bzw. bei Gericht eingereicht wird (Nr. 2), ist dagegen unerheblich. Die Anrufung im Sinne des Art. 27 EuGVVO aF setzt nicht voraus, dass beide Maßnahmen kumulativ bewirkt worden sind […].“

Nach der lex fori – d.h. nach deutschem Recht – richte sich, welche Alternative des Art. 32 Abs. 1 EuGVVO (Art. 30 EuGVVO aF) einschlägig sei (in Deutschland Nr. 1, in romanischen Rechtsordnungen Nr. 2), welche Maßnahmen für eine Zustellung erforderlich sind und ob die klagende Partei alles Erforderliche getan hat, um die Zustellung an den Beklagten zu bewirken. Das sei zu verneinen, wenn dem Kläger eine zuzurechnende Nachlässigkeit anzulasten sei.

„Gemessen an diesen Grundsätzen begegnet die Beurteilung des Beschwerdegerichts durchgreifenden rechtlichen Bedenken […]. Zwar hat die Klägerin ihre Klage am 7. Juni 2012 bei dem Landgericht Stuttgart eingereicht.

Die bisherigen Feststellungen rechtfertigen aber nicht die Beurteilung, die Klägerin habe die ihr nach deutschem Recht obliegenden Maßnahmen vollständig ergriffen, um die Zustellung der Klage an die Beklagte zu 1 zu bewirken. […] Die Klägerin hat es aber jedenfalls bis zum 14. Januar 2013 versäumt, dem Gericht eine zustellungsfähige Anschrift der Beklagten zu 1 mitzuteilen.

(1) Nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat der Kläger in der Klageschrift eine ladungsfähige Anschrift des Beklagten anzugeben, weil sonst die Zustellung der Klageschrift und damit die Begründung eines Prozessrechtsverhältnisses nicht möglich ist […]. Er muss die Anschrift des Beklagten richtig und vollständig mitteilen […]. Dies gilt auch für eine im Ausland zuzustellende Klage […].

(2) Die nach diesen Grundsätzen erforderliche Angabe einer zutreffenden und vollständigen Anschrift des Beklagten gehört zu den Maßnahmen, die dem in Deutschland Klagenden gemäß Art. 30 Nr. 1 EuGVVO aF obliegen, um die Zustellung der Klage zu bewirken […].

Dieser Beurteilung steht nicht entgegen, dass der Kläger die erforderlichen Angaben nach deutschem Recht nicht erst „in der Folge“ der Einreichung der Klage (vgl. Art. 30 Nr. 1 EuGVVO aF), sondern bereits in der Klageschrift und damit bei Einreichung der Klage machen muss […]. Denn erfüllt der Kläger die ihn bereits mit der Klageeinreichung treffenden Obliegenheiten nicht, so obliegt ihm deren Befolgung weiterhin, also auch in der Folge der Klageeinreichung.

(3) Die Angaben der Klägerin in der Klageschrift in Bezug auf die Anschrift der Beklagten zu 1 waren unzureichend, weil sie weder den Bestimmungsort noch die konkrete Insel noch die Postleitzahl enthielten […].

(a) Gemäß § 183 Abs. 1 Satz 2 ZPO soll durch Einschreiben mit Rückschein zugestellt werden, wenn Schriftstücke aufgrund völkerrechtlicher Vereinbarungen unmittelbar durch die Post übersandt werden dürfen. Diese Möglichkeit ist im Verhältnis zu den Cayman-Inseln […] gegeben. […]

(b) Damit oblag es der Klägerin, dem Gericht – in dessen Ermessen unabhängig von einer etwaigen Anregung der Klägerin die Form der Zustellung stand […] – eine auch für die Zustellung auf dem Postweg genügende Anschrift mitzuteilen.

Auch wenn eine Postsendung für einen Empfänger im Ausland bestimmt ist, bildet die Angabe des regelmäßig durch eine Postleitzahl („postal code“) oder eine Zustellbereichsnummer konkretisierten Bestimmungsortes einen Teil der Adresse, der für den ordnungsgemäßen, störungsfreien Postweg wesentlich ist.

Dem tragen die […] Ergänzenden Briefpostbestimmungen vom 1. Dezember 1999 [...] in Art. RE 204 Nr. 3. 3 mit der Bestimmung Rechnung, dass die Postverwaltungen den Postbenutzern empfehlen müssen, die Anschrift des Empfängers präzise und vollständig abzufassen und den – in Großbuchstaben geschriebenen – Namen des Bestimmungsortes und des Bestimmungslandes gegebenenfalls durch die Postleitzahl oder die entsprechende Zustellbereichsnummer zu ergänzen […].

Die Deutsche Post AG, die […] die sich aus dem Weltpostvertrag ergebenden Rechte und Pflichten der Postverwaltung gegenüber den Benutzern und anderen Postverwaltungen wahrnimmt, kommt dieser Verpflichtung auf ihrer Internetseite (https://www.deutschepost.de/de/b/briefe-ins-ausland/laenderinformationen.html) nach.“

Der BGH erläutert dann detalliert, wie man die Homepage bedient und an den Adressvordruck für die Cayman Islands gelangt. Dass es im Streitfall auch ohne eine Postleitzahl jedem Postbediensteten klar gewesen sei, wohin die Sendung gehöre, sei unerheblich. Maßgeblich sei allein, ob die Klägerin die ihr obliegenden Maßnahmen getroffen habe.

Das Versäumnis, eine vollständige Anschrift der Beklagten zu 1 mitzuteilen, sei der Klägerin auch zuzurechnen, weil sie dies hätte vermeiden können. Sie habe nicht die ihr möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergriffen, um die zustellungsfähige Anschrift der Beklagten zu ermitteln. Es sei zwar in der Regel nicht erforderlich, einen Handelsregisterauszug oder eine öffentliche Urkunde anzufordern, die klagende Partei könne sich auch sonst aus einer zuverlässigen Quelle informieren. Bei der von ihr eingeholten Auskunft aus dem General Register der Cayman Islands hätte es die Klägerin hier allerdings nicht belassen dürfen:

„Soweit in der Rubrik „Registered Office“ Adressangaben enthalten sind, sind diese offensichtlich so rudimentär, dass sie Anlass zu ernsthaften Zweifeln gaben, ob eine Postzustellung an diese Adresse möglich sein würde. Sie durften deshalb nicht als verlässliche Auskunft über die zustellungsfähige Anschrift angesehen werden. Denn sie weisen entgegen allen nationalen und internationalen Regeln und Gepflogenheiten im Postverkehr weder einen Bestimmungsort noch eine Postleitzahl oder eine Zustellbereichsnummer aus.“

3. Der BGH wendet sich dann noch der Zustellung an die britischen Prozessbevollmächtigten zu. Ob auch an einen rechtsgeschäftlich bestellten Vertreter zugestellt werden könne, richte sich nach nationalem Recht, d.h. nach § 171 ZPO. Danach sei die Zustellung nur wirksam gewesen, wenn die britischen Prozessbevollmächtigten auch zur Entgegennahme von Schriftstücken auch tatsächlich bevollmächtigt waren oder die Klägerin ohne Nachlässigkeit darauf vertrauen durfte, dass die Vertreter auch tatsächlich Empfangsvollmacht hatten. Das Risiko einer nicht wirksamen Zustellung trage die Klägerin.

Das Bestehen, den Umfang und die Auslegung einer rechtsgeschäftlich erteilten Vollmacht richte sich nach englischem Recht, da die Vollmacht in den Räumen der britischen Prozessbevollmächtigten Verwendung finden sollte. Das OLG müsse daher gem. § 293 ZPO – durch Einholung eines Sachverständigengutachtens – klären, ob sich aus der Bevollmächtigung für die vorgerichtliche Aufforderung oder für die Klageerhebung in England auch eine Empfangsvollmacht ergebe.

4. Und zuletzt weist der BGH noch darauf hin, dass eine etwaige Heilung der Zustellung gem. § 189 ZPO irrelevant sei:

„[Es kommt] im Rahmen des Art. 30 Nr. 1 EuGVVO aF nicht auf die Zustellung, sondern darauf an, ob der Kläger alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen hat, um sicherzustellen, dass die Klage dem Beklagten zugestellt wird. Ist dies zu verneinen, ist für die Anwendung des in Art. 27 EuGVVO aF verankerten Prioritätsgrundsatzes nicht der Zeitpunkt der Klageeinreichung, sondern der der endgültigen Rechtshängigkeit maßgeblich […].“

Anmerkung

Die 36-seitige (!) Entscheidung ist vom Umfang wie auch inhaltlich ein ziemlich „dickes Brett“, die zitierte Literatur und Rechtsprechung haben einen Umfang, den ich in dieser Form auch bei BGH-Entscheidungen selten gesehen habe. Die Argumentation des BGH mutet zwar äußerst formalistisch an, schafft aber Rechtssicherheit und stellt auch keine überzogenen Anforderungen.

Praktische Bedeutung dürften die Ausführungen des BGH zu den Anforderungen an die in der Klageschrift anzugebende ausländische Anschrift (und die Möglichkeit, diese auf den Seiten der Deutschen Post zu recherchieren) insbesondere Im Hinblick auf § 167 ZPO haben. Will die klagende Partei eine vor Zustellung abgelaufene Frist wahren, muss sie „alles ihr Zumutbare für eine alsbaldige Zustellung“ getan haben(s. nur BGH, Urteil vom 11.02.2011 - V ZR 136/10, BAG, Urteil vom 23.08.2012 - 8 AZR 349/11). Diese Anforderungen dürften den Anforderungen des Art. 32 Abs. 1 EuGVVO entsprechen.

Ich jedenfalls habe den vom BGH dankenswerterweise mitgelieferten Link auf meinem Dienstrechner mit einem Lesezeichen versehen.

tl;dr: Zu den Maßnahmen, die eine in Deutschland klagende Partei gem. Art. 32 Abs. 1 EuGVVO zu treffen hat, um die Zustellung einer Klage zu bewirken, gehört die Angabe einer zutreffenden und vollständigen Anschrift der beklagten Partei.

Anmerkung/Besprechung, BGH, Beschluss vom 13.09.2016 – VI ZB 21/15. Foto: ComQuat | wikimedia.org | CC BY-SA 3.0