BGH: Zeugnisverweigerungsrecht auch bei Verwandtschaft mit Geschäftsführer einer Partei

Tobias Helferich wikimedia cc-by-sa 3.0Eine seit langem umstrittene und sehr praxisrelevante Frage der zivilprozessualen Zeugnisverweigerungsrechte in §§ 383, 384 ZPO hat der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 29.09.2015 – XI ZB 6/15 beantwortet.

In der Entscheidung geht es um die entsprechende Anwendung der Zeugnisverweigerungsrechte in § 383 Abs. 1 Nr. 1-3 ZPO in Konstellationen, in denen der Zeuge nicht mit einer der Parteien, sondern mit einem Mitglied des Vertretungsorgans einer Partei in einem verwandtschaftlichen Verhältnis steht.

Sachverhalt

Der Kläger war Insolvenzverwalter über das Vermögen des Zeugen. In dieser Funktion begehrte er von der Beklagten GmbH Herausgabe mehrerer Gegenstände. Geschäftsführerin der Beklagten war die inzwischen geschiedene Ehefrau des Zeugen. Der u.a. von der Beklagten benannte Zeuge verweigerte die Aussage und berief sich darauf, der geschiedene Ehemann der Geschäftsführerin der Beklagten zu sein.

Das Landgericht erklärte die Zeugnisverweigerung für rechtmäßig. Die sofortige Beschwerde der Beklagten blieb erfolglos.

Über das Vermögen des Zeugen war hier das Insolvenzverfahren eröffnet worden; ab diesem Zeitpunkt konnte er nicht mehr über sein Vermögen verfügen, sondern gem. § 80 Abs. 1 InsO nur noch der Insolvenzverwalter. In dieser Funktion verlangte der Kläger nun von der Beklagten die Herausgabe bestimmter Gegenstände. Der Zeuge, zu dessen Vermögen die Gegenstände (nach der Auffassung des Insolvenzverwalters) gehörten, war „nur“ noch Zeuge.

Als Zeuge stand ihm aber gem. §§ 383, 384 ZPO unter den dort genannten Voraussetzungen das Recht zu, das Zeugnis verweigern keine Angaben zur Sache zu machen. Hier hatte sich der Zeuge auf § 383 Abs. 1 Nr. 2 ZPO berufen, weil die Geschäftsführerin der Beklagten seine geschiedene Ehefrau sei.

Damit war die Beklagte allerdings nicht einverstanden und vertrat die Ansicht, § 383 Abs. 1 Nr. 1 und 2 ZPO seien hier nicht anwendbar, da nicht die geschiedene Ehefrau des Zeugen selbst Beklagte des Rechtsstreits sei, sondern lediglich die von ihr geführte GmbH. Außerdem sei die Ehe schon geschieden, so dass das Zeugnisverweigerungsrecht seinen Zweck (Schutz der familiären Beziehung) nicht mehr erfüllen könne.

Ist - wie hier - streitig, ob dem Zeugen ein Zeugnisverweigerungsrecht zusteht, wird dies im Wege eines sog. Zwischenstreits geklärt: Das Gericht hatte gem. § 387 Abs. 3 ZPO durch Zwischenurteil entschieden, dass die Zeugnisverweigerung rechtmäßig sei. Gegen dieses Zwischenurteil hatte die Beklagte erfolglos sofortige Beschwerde und gegen die Entscheidung des Beschwerdegerichts Rechtsbeschwerde eingelegt.

Entscheidung
Auch der Bundesgerichtshof hält die Zeugnisverweigerung für rechtmäßig:

„a) Der weitere Beteiligte ist als geschiedener Ehemann der Geschäftsführerin der Beklagten gemäß § 383 Abs. 1 Nr. 2 ZPO […] zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigt. Nach dieser Vorschrift hat der Ehegatte einer Partei, auch wenn die Ehe nicht mehr besteht, ein Zeugnisverweigerungsrecht.

Diese Regelung findet nach ihrem Sinn und Zweck entsprechende Anwendung, wenn die Partei eine juristische Person ist und der Zeuge, wie im vorliegenden Fall, Ehegatte des gesetzlichen Vertreters dieser Partei ist oder war […].

Der Weigerungsgrund des § 383 Abs. 1 Nr. 2 ZPO beruht auf der Überlegung, dass ein Zeuge, der mit einer der Parteien familiär verbunden ist, mit großer Wahrscheinlichkeit in einen Konflikt zwischen Wahrheitspflicht und familiärer Rücksichtnahme gerät, wenn er über Tatsachen aussagen soll, die für den Angehörigen nachteilig sind. Ein solcher Zeuge soll weder durch eine wahre Aussage zu Ungunsten des Angehörigen die Integrität der Familie gefährden, noch aus Rücksicht auf den Angehörigen falsch aussagen. Das Zeugnisverweigerungsrecht gemäß § 383 Abs. 1 Nr. 2 ZPO schützt mit der Familie den Bereich, der typischerweise zur engeren Privatsphäre des Zeugen gehört […].

Dieser Regelungszweck rechtfertigt es, § 383 Abs. 1 Nr. 2 ZPO auch dann anzuwenden, wenn der Zeuge nicht Ehegatte einer Partei ist, sondern wenn die Partei eine juristische Person ist und der Zeuge Ehegatte des gesetzlichen Vertreters dieser juristischen Person ist oder war. In diesem Fall befindet sich der Zeuge in einem vergleichbaren Konflikt zwischen Wahrheitspflicht und familiärer Rücksichtnahme wie im unmittelbaren Anwendungsbereich des § 383 Abs. 1 Nr. 2 ZPO. Der weitere Beteiligte als früherer Ehegatte der Geschäftsführerin der beklagten GmbH ist mithin entsprechend § 383 Abs. 1 Nr. 2 ZPO zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigt.

b) Die Rechtsbeschwerde macht ohne Erfolg geltend, das Zeugnisverweigerungsrecht, das dem Zusammenhalt der Familie diene, könne diese Zweckbestimmung in der vorliegenden Fallkonstellation, in der die Ehe längst geschieden sei, nicht mehr erfüllen. Eine Zweckbestimmung, die nicht mehr erfüllt werden könne, rechtfertige eine entsprechende Anwendung der Norm nicht. Außerdem liege es auf der Hand, dass der weitere Beteiligte als Zeuge nichts bekunden könne, was er aufgrund seiner früheren Ehe erfahren habe. Seine Ehefrau sei nämlich erst nach der Scheidung der Ehe Geschäftsführerin der Beklagten geworden.

Diese Einwände greifen nicht durch. Dass das Zeugnisverweigerungsrecht nach § 383 Abs. 1 Nr. 2 ZPO nach Scheidung der Ehe fortbesteht, ergibt sich unmittelbar aus dem Wortlaut der Vorschrift. Im Übrigen ist es ohne Einfluss auf das Recht zur Zeugnisverweigerung, ob der nach § 383 Abs. 1 Nr. 2 ZPO zur Zeugnisverweigerung berechtigte Zeuge bei seiner Aussage tatsächlich in den beschriebenen Konflikt geraten würde […].“

Anmerkung

Ehrlich gesagt erschien mir die Frage vor Lektüre der Entscheidung so eindeutig, dass ich sie gar nicht in einem Kommentar nachgeschlagen hätte – ich hätte das Zeugnisverweigerungsrecht ohne Weiteres bejaht. Denn m.E. braucht es die vom BGH bemühte Analogie gar nicht: Denn die juristische Person „lebt" bzw. handelt ohnehin nur durch ihre Organe (vgl. § 31 BGB), so dass nicht auf die juristische Person selbst, sondern auf deren Organvertreter abzustellen ist.

Die Frage der (entsprechenden) Anwendung ist in der Literatur aber sehr umstritten, eine entsprechende Anwendbarkeit von § 383 Abs. 1 Nrn. 1-3 ZPO in Fällen wie dem hier vorliegenden verneinen beispielsweise MünchKommZPO/Damrau, § 383 Rn. 11, Musielak/Voit/Huber, § 383 Rn. 2 und BeckOK-ZPO/Scheuch, § 383 Rn. 13 (allerdings sämtlich ohne nähere Begründung).

Die Ausführungen des BGH dürften im Übrigen entsprechend auch für die weiteren auf verwandtschaftlichen Verhältnissen beruhenden Zeugnisverweigerungsrechte in § 383 Abs. 1 Nr. 1, 2a und 3 und damit auch für § 384 Nr. 1 und 2 ZPO gelten.

Update v. 29.11.2015: Dem Zeugen hätte nach wohl überwiegender Ansicht ein Zeugnisverweigerungsrecht auch aus seiner Stellung als „Zeuge in eigener Angelegenheit" zugestanden (s. Uhlenbruck/Mock, § 80 Rn. 23; Nerlich/Römermann/Kruth/Wittkowski, § 80 Rn. 32; m.E. zu Recht ablehnend aber Jaeger/Windel, § 80 Rn. 166). Das hat aber wohl im gesamten Verfahren niemand gesehen, auch nicht der BGH (dankenswerter Weise aber ein Leser, s. die Kommentare unten).

tl;dr: § 383 Abs. 1 Nr. 1-3 ZPO sind entsprechend anwendbar, wenn eine verwandtschaftliche Beziehung des Zeugen zu einem Mitglied des Vertretungsorgans einer am Rechtsstreit beteiligten juristischen Person besteht.

Anmerkung/Besprechung, BGH, Beschluss vom 29.09.2015 – XI ZB 6/15. Foto: Tobias Helferich | wikimedia | SS BY-SA 3.0