BGH zu den zeitlichen Grenzen eines Schadensersatzanspruchs aus § 945 ZPO

RetroWench_Blue Denim Jeans flickr.com CC BY-SA 2.0Mit Urteil vom 10.07.2014 – I ZR 249/12 („Nero“) hat der Bundesgerichtshof näher konkretisiert, ab welchem Zeitpunkt die Schadensersatzpflicht aus § 945 ZPO beginnt und wann sie endet.

Sachverhalt

Im konkreten Fall hatte die Beklagte am 09.06.2006 gegen die Klägerin eine einstweilige Verfügung des LG Hamburg erwirkt, mit welcher der Klägerin untersage wurde, das Jeansmodell „Nero“ herzustellen, anzubieten und/oder in Verkehr zu bringen. Diese Verfügung übermittelte die Beklagte der Klägerin zunächst formlos mit Schreiben vom 12.06.2006. Erst am 06.07.2006 stellte die Beklagte der Klägerin diese Verfügung zu. Auf den Widerspruch der Klägerin bestätigte das Landgericht seine einstweilige Verfügung. Im Berufungsverfahren vor dem OLG nahm die Beklagte schließlich am 14.03.2007 ihren Antrag auf Erlass der einstweiligen Verfügung zurück.

Im Hauptsachverfahren untersagte das LG Hamburg mit Urteil vom 27.03.2007 den Verkauf der Hose. Auf die Berufung der Klägerin wies das OLG Hamburg mit Urteil vom 19.12.2007 die Klage ab. Die Nichtzulassungsbeschwerde blieb erfolglos (Beschluss des BGH vom 13.08.2009).

Die Klägerin beendete schon am 20.06.2006 (d.h. vor Vollziehung der einstweiligen Verfügung) den weiteren Vertrieb der Hose und nahm diesen bis zur Entscheidung des BGH im Hauptsacheverfahren nicht wieder auf. Für den gesamten Zeitraum begehrte die Klägerin nun Schadensersatz aus § 945 ZPO. Die Vorinstanzen hatten die Klage insgesamt abgewiesen und dies damit begründet, dass die Vollziehung der einstweiligen Verfügung für die Betriebseinstellung nicht ursächlich gewesen sei.

Der Fall ist hervorragend geeignet, sich einmal den Verfahrensgang im Verfügungsverfahren und im Hauptverfahren vor Augen zu führen und sich mit der Vorschrift des § 945 ZPO zu befassen.

Das Landgericht hatte zunächst gem. §§ 936 i.V.m. 922 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 ZPO ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss eine einstweilige Verfügung erlassen (die Parteien heißen dann Antragsteller und Antragsgegner) und gleichzeitig für den Fall der Zuwiderhandlung ein Ordnungsgeld angedroht (§ 890 Abs. 2 ZPO). Damit die ohne mündliche Verhandlung erlassene Verfügung vollstreckbar wird (d.h. der Antragsteller die Verhängung eines Ordnungsgeldes beantragen kann) muss sie dem Antragsgegner förmlich bekannt gegeben werden. Dies geschieht mit der sog. „Vollziehung“, d.h. der Zustellung der einstweiligen Verfügung an den Gegner, §§ 936 i.V.m. 922 Abs. 2 ZPO. Die Zustellung erfolgt dabei im sog. Parteibetrieb (§§ 191 ff. ZPO) und nicht von Amts wegen. Zugestellt wird dabei entweder von Anwalt zu Anwalt (§ 195 ZPO) oder durch den Gerichtsvollzieher (§§ 192 ff.).

Einziges Rechtsmittel gegen eine durch Beschluss erlassene einstweilige Verfügung ist der Widerspruch (§§ 936 i.V.m. 924 ZPO). Daher war – ebenfalls vor dem Landgericht – mündlich verhandelt worden, das Landgericht hatte seine vorherige Verfügung – nun durch Urteil – bestätigt (die Parteien hießen nun Verfügungskläger und Verfügungsbeklagter). Dagegen hatte die Verfügungsbeklagte Berufung eingelegt. Und in der Berufungsverhandlung vor dem OLG hatte die Verfügungsklägerin dann ihren Antrag zurückgenommen (vielleicht auf einen deutlichen Hinweis des Gerichts). Damit war die einstweilige Verfügung entsprechend § 269 Abs. 3 Satz 1 Hs. 2 ZPO wirkungslos geworden.

Neben diesem Verfahren hatte die Beklagte aber auch in der Hauptsache Unterlassungsklage erhoben. Das Landgericht hatte dieser mit Urteil vom 27.03.2007 stattgegeben. Das OLG wies die Klage allerdings ab. Die dagegen gerichtete Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten wies der BGH mit Beschluss vom 13.08.2009 zurück.

Nun hatte die Verfügungsbeklagte erhebliche Umsatzeinbußen dadurch erlitten, dass sie den Vertrieb der Hose eingestellt hatte. Für einen solchen Schaden, den jemand durch die Vollstreckung aus einer ungerechtfertigten einstweiligen Verfügung erleidet, haftet der Vollstreckende gem. § 945 ZPO verschuldensunabhängig. Ebenso haftet im Übrigen gem. § 717 Abs. 2 ZPO derjenige, der aus einem nicht rechtskräftig sondern nur für vorläufig vollstreckbar erklärten Urteil vollstreckt. Denn in beiden Fällen erlaubt das Gesetz dem Gläubiger einen Zugriff auf das Vermögen des Schuldners, bevor endgültig über den Anspruch entschieden worden ist.

Hier hätte die Antragstellerin erst nach Vollziehung der Verfügung am 06.07.2006 aus der einstweiligen Verfügung vollstrecken, ein Ordnungsgeld gegen die Antragsgegnerin beantragen können, wenn diese die Hose weiter vertrieben hätte. Den Vertrieb der Hose hatte die Antragsgegnerin aber schon vorher eingestellt. Und sie hatte den Vertrieb auch nicht sofort wieder aufgenommen, nachdem die Verfügung unwirksam geworden war. Deshalb hatten die Vorinstanzen die Vollziehung der Verfügung nicht für ursächlich für die Vertriebseinstellung der Klägerin gehalten.

Entscheidung

Der BGH führt zunächst allgemein aus, dass allein das Erwirken eines Titels allein niemals die Schadensersatzpflicht aus § 945 ZPO begründen könne. Die in der Vorschrift geforderte Vollziehung setze vielmehr ein Verhalten voraus, das einen gewissen Vollstreckungsdruck erzeugt. Bei im Beschlusswege erlassenen Unterlassungsverfügungen setze dies (neben der Zwangsmittelandrohung) auch die Vollziehung gem. § 922 Abs. 2 ZPO voraus, weil der Schuldner das Verbot erst dann beachten und bei Zuwiderhandlungen mit einem Ordnungsgeld rechnen müsse.

Für den Zeitraum vor der Zustellung der einstweiligen Verfügung am 06.07.2006 stehe der Klägerin daher kein Anspruch zu:

„Dadurch, dass die Beklagten der Klägerin vor einer förmlichen Zustellung im Parteibetrieb mit Schreiben vom 12. Juni 2006 eine Abschrift der einstweiligen Verfügung vom 9. Juni 2006 übermittelt haben, haben sie keinen Vollstreckungsdruck erzeugt, der eine Schadensersatzverpflichtung der Beklagten begründen kann. Die einstweilige Verfügung vom 9. Juni 2006 war mangels Zustellung im Parteibetrieb zu diesem Zeitpunkt noch nicht wirksam. Eine nicht wirksame einstweilige Verfügung brauchte die Klägerin nicht zu beachten.

Die gleichwohl bereits im Juni 2006 erfolgte Einstellung des Vertriebs der Jeanshose „Nero" stellt sich danach nicht als eine durch einen Vollstreckungsdruck ausgelöste Befolgung des Verbots dar.“

Dem stehe auch nicht entgegen, dass der BGH für eine durch Urteil erlassene Verbotsverfügung entschieden habe, dass diese mit der Verkündung des Urteils wirksam werde und vom Schuldner ab diesem Zeitpunkt zu beachten sei. Denn eine durch Urteil erlassene Verbotsverfügung werde wie jedes Urteil mit der Verkündung wirksam könne Grundlage der Zwangsvollstreckung sein.

Der BGH wendet sich dann dem Zeitraum nach Rücknahme des Antrags am 14.03.2007 zu:

„Im Ergebnis zu Recht ist das Berufungsgericht weiterhin davon ausgegangen, dass ein Schadensersatzanspruch gemäß § 945 ZPO für solche Schäden ausgeschlossen ist, die der Klägerin wegen der Befolgung des Verbots nach der Rücknahme des Verfügungsantrags durch die Beklagten am 14. März 2007 entstanden sind. Nach dem dadurch bedingten Wegfall des Titels entfiel auch ein durch ihn erzeugter Vollstreckungsdruck. Schäden, die der Klägerin infolge der Beibehaltung der Vertriebseinstellung der Jeanshose "Nero" nach dem 14. März 2007 entstanden sind, können nicht kausal auf der Vollziehung der einstweiligen Verfügung beruhen.

Soweit die Klägerin geltend gemacht hat, sie sei an einer Vertriebsaufnahme nach der Rücknahme des Verfügungsantrags in der Berufungsverhandlung deshalb gehindert gewesen, weil wenige Tage später das sie benachteiligende erstinstanzliche Urteil in der Hauptsache zu erwarten gewesen sei, kann dies allenfalls Schadensersatzansprüche nach § 717 Abs. 2 ZPO begründen.

Auf diese Vorschrift hat die Klägerin die Klage jedoch nicht gestützt. Sie hat auch zu den Voraussetzungen einer Haftung der Beklagten nach dieser Vorschrift nichts vorgetragen.“

Hinsichtlich des restlichen Zeitraums zwischen Zustellung und Rücknahme hebt der BGH die Entscheidung des Berufungsgerichts aber auf:

„Das Berufungsgericht hat angenommen, die Klägerin könne ihr Schadensersatzbegehren auch nicht mit der weiteren Befolgung des Verbots in der Zeit seit dem 6. Juli 2006 begründen.

Ursächlich für die Vertriebseinstellung sei nach dem eigenen Vortrag der Klägerin die in dem Erlass der einstweiligen Verfügung zum Ausdruck gekommene Rechtsauffassung des Landgerichts und die hierdurch für die Klägerin begründete Rechtsunsicherheit gewesen, die erst mit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 13. August 2009 beseitigt worden sei. Ursächlich für die Fortdauer der Einstellung des Vertriebs der Jeanshose sei dagegen nicht erst die Vollziehung der einstweiligen Verfügung gewesen. [...]

Diese Beurteilung beanstandet die Revision zu Recht.

Die Ursächlichkeit der von den Beklagten erwirkten einstweiligen Verfügung für die Einstellung des Vertriebs der Jeanshose "Nero" ist als haftungsbegründender Umstand zwar von der geschädigten Klägerin zu beweisen. Ihr kommen dabei allerdings die Beweiserleichterungen des § 287 ZPO zugute […].

Die Annahme des Berufungsgerichts, die Parteizustellung sei für die weitere Befolgung des ausgesprochenen Unterlassungsgebots nach der Zustellung der einstweiligen Verfügung im Parteibetrieb am 6. Juli 2006 nicht ursächlich, wird der Situation der Klägerin als Vollstreckungsschuldnerin nicht gerecht. […]

Mit der Zustellung der mit Ordnungsmittelandrohung versehenen Beschlussverfügung im Parteibetrieb hatten die Beklagten die Voraussetzungen für die Zwangsvollstreckung geschaffen. Der Schuldner muss bei einer solchen Sachlage damit rechnen, dass der Gläubiger jederzeit von der Vollstreckungsmöglichkeit Gebrauch macht und im Falle einer Zuwiderhandlung gegen die in der Beschlussverfügung ausgesprochene Unterlassungsverpflichtung die Festsetzung von Ordnungsmitteln beantragt. Bei einer solchen Sachlage ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Befolgung des Unterlassungsgebots nicht freiwillig, sondern zur Abwendung von Vollstreckungsmaßnahmen erfolgt […]. Damit beugt der Schuldner sich einem Vollstreckungsdruck. Davon ist auch vorliegend auszugehen.“

tl;dr: Die Schadensersatzpflicht gem. § 945 ZPO beginnt bei einer im Beschlusswege erlassenen Verbotsverfügung erst mit der förmlichen Zustellung. Sie endet mit Rücknahme des Verfügungsantrags. Mit der Zustellung der Verfügung ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Verfügung nicht freiwillig sondern zur Abwendung von Vollstreckungsmaßnahmen befolgt wird.

Anmerkung/Besprechung, BGH, Urteil v. 10.07.2014 – I ZR 249/12. Foto: RetroWench/Blue Denim Jeans | flickr.com | CC BY-SA 2.0