Examensalarm: Böhmermann, Kailitz, Einzelrichter und einstweilige Verfügungen

Jonas Rogowski wikimedia.org CC BY-SA 3.0Die „Examensgefahr“ des einstweiligen Rechtsschutzes dürfte durch die Entscheidungen des Landgerichts Hamburg in Sachen Erdogan ./. Böhmermann und des Landgerichts Dresden NPD ./. Kailitz und die damit einhergehenden Berichterstattung stark gestiegen sein. Gleichzeitig ist die Darstellung insbesondere des Verfahrens NPD ./. Kailitz in der Presse hinsichtlich der (prozess-)rechtlichen Zusammenhänge teilweise irreführend oder sogar schlicht falsch.

Deshalb sollen im Folgenden (insbesondere für Studierende und ReferendarInnen) die relevanten prozessrechtlichen Fragen im Überblick und mit Bezug zu den konkreten Fällen dargestellt werden.

1. Sachverhalt

In beiden Verfahren ging es um den Erlass einer einstweiligen Verfügung, mit der jeweils Unterlassungsansprüche geltend gemacht wurden. In dem Verfahren Erdogan ./. Böhmermann hat das Landgericht Hamburg dem TV-Moderator/Satiriker Jan Böhmermann untersagt, Teile eines so bezeichneten „Schmähgedichts“ wiederzugeben. Die entsprechende Pressemitteilung des Landgerichts Hamburg findet sich hier (im Anhang der Pressemitteilung findet man übrigens das gesamte „Gedicht“, sollte jemand noch nicht in dessen Genuss gekommen sein).

In dem Verfahren NPD ./. Kailitz hat das LG Dresden dem Politikwissenschaftler Steffen Kailitz untersagt, über die NPD (wie hier) zu behaupten, sie plane „rassistisch motivierte Staatsverbrechen und wolle acht bis elf Millionen Menschen aus Deutschland vertreiben, darunter mehrere Millionen deutscher Staatsbürger mit Migrationshintergrund“. Die Entscheidung des Landgerichts Dresden findet man vollständig hier.

2. Das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Verfügung

a) Allgemeines

Der Erlass einer einstweiligen Verfügung setzt einen Verfügungsanspruch und einen Verfügungsgrund voraus: Der Verfügungsanspruch ist dabei der jeweilige materiell-rechtliche Anspruch des Antragstellers gegen den Antragsgegner; der Verfügungsgrund ist der Lebenssachverhalt, aus dem sich die besondere Eilbedürftigkeit ergibt.

Theoretisch ist dabei zwischen der Sicherungsverfügung (§ 935 ZPO), der Regelungsverfügung (§ 940 ZPO) und der Leistungsverfügung zu unterscheiden; praktisch sind die Grenzen kaum trennscharf zu ziehen. Bei den hier in Rede stehenden Unterlassungsverfügungen dürfte es sich im Ergebnis um nicht geregelte aber auf § 940 ZPO gestützte Leistungsverfügungen handeln, da das Unterlassungsgebot die Hauptsache zwangsläufig vorwegnimmt.

Zuständig für den Erlass einer einstweiligen Verfügung ist gem. § 937 Abs. 1, 943 Abs. 1 ZPO grundsätzlich das Gericht der Hauptsache i.S.d. §§ 3 ff., 12 ff. ZPO richtet. Sachlich zuständig war jeweils das Landgericht, da der Streitwert aufgrund der Bedeutung beider Verfahren für die Betroffenen jedenfalls über 5.000 EUR lag. Örtlich zuständig waren gem. § 32 ZPO sämtliche Landgerichte in Deutschland (sog. „fliegender Gerichtsstand“). Denn die jeweiligen Äußerungen konnten im gesamten Bundesgebiet abgerufen werden, weshalb die Handlung grds. überall in Deutschland „begangen“ wurde. Die Antragsteller konnten sich gem. § 35 ZPO ein Gericht aussuchen. (Warum das Landgericht Hamburg beliebt ist, beschreibt RA Udo Vetter im lawblog, dass man das auch anders sehen kann, schreibt RA Dominik Höch).

In dem Antrag (bzw. terminologisch richtig: „Gesuch“) auf Erlass einer einstweiligen Verfügung sind der Verfügungsanspruch und der Verfügungsgrund glaubhaft zu machen, §§ 936, 920 Abs. 2, 294 ZPO. D.h. praktisch, dass die jeweiligen einen materiellen Anspruch und in der Regel auch die besondere Eilbedürftigkeit begründenden Umstände darzulegen und durch Urkunden oder durch eidesstattliche Versicherungen (§ 294 ZPO) zu belegen sind.

b) Entscheidungsmöglichkeiten des Gerichts

Ist der Antrag unzulässig, unschlüssig oder sind die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Verfügung nicht glaubhaft gemacht, weist das Gericht den Antrag durch Beschluss  zurück, ohne den Antragsgegner anzuhören, § 937 Abs. 2. Der Beschluss wird dem Antragsgegner auch nicht mitgeteilt, § 936 i.V.m. § 922 Abs. 3 ZPO.

Liegen die Voraussetzungen für den Erlass der einstweiligen Verfügung vor und ist die Sache in besonderem Maße eilbedürftig, erlässt das Gericht die begehrte einstweilige Verfügung ohne vorherige Anhörung des Antragsgegners durch Beschluss, § 937 Abs. 2 ZPO. Der Beschluss muss nur begründet werden, wenn dieser im Ausland vollstreckt werden soll, §§ 936, 922 Abs. 1 Satz 2 ZPO. Dass die Entscheidung des Landgerichts Dresden nicht begründet ist, ist also keinesfalls „sehr ungewöhnlich“, wie beispielsweise der Tagesspiegel schreibt.

Liegt keine ganz besondere Eilbedürftigkeit i.S.d. § 937 Abs. 2 ZPO vor, bestimmt das Gericht kurzfristig einen Termin zur mündlichen Verhandlung und lädt die Parteien. (Das sollte entgegen verbreiteter Praxis wegen des Verfassungsrangs des Anspruchs auf rechtliches Gehör und des Ausnahmecharakters von § 937 Abs. 2 ZPO eigentlich die Regel sein.) Kommt in dem Termin zur mündlichen Verhandlung keine Einigung zustande, entscheidet das Gericht durch (normales, zu begründendes) Urteil.

c) Die Reaktionsmöglichkeiten der Beteiligten

Weist das Gericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung ohne mündliche Verhandlung zurück, steht dem dadurch beschwerten Antragsteller (unter den Voraussetzungen des § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) gegen den Beschluss die sofortige Beschwerde zu, § 567 Abs. 1 Nr. 2 ZPO.

Erlässt das Gericht die einstweilige Verfügung im Beschlusswege ohne mündliche Verhandlung, kann der Antragsgegner gegen die einstweilige Verfügung gem. §§ 936, 924 Abs. 1 ZPO Widerspruch einlegen. Auf den Widerspruch ist gem. §§ 936, 924 Abs. 2 Satz 2 ZPO Termin zur mündlichen Verhandlung anzuberaumen, dem Antragsgegner wird damit nachträglich rechtliches Gehör gewährt. Auf die mündliche Verhandlung ist dann wiederum – sofern keine Einigung zustande kommt – durch Urteil zu entscheiden, §§ 936, 925 ZPO. Diesen Weg ist wohl Kailitz gegangen.

Entscheidet das Gericht – entweder aufgrund eines von Beginn an anberaumten Termins oder nach einem Widerspruch – durch Urteil, gelten die allgemeinen Vorschriften; gegen das Urteil ist unter den allgemeinen Voraussetzungen des § 511 ZPO die Berufung statthaft.

Der Antragsgegner kann die einstweilige Verfügung (durch Urteil oder Beschluss) jedoch auch hinnehmen und gem. §§ 936, 926 ZPO beantragen, dass das Gericht dem Antragsteller eine Frist zur Erhebung der Hauptsacheklage setzt, §§ 936, 926 ZPO. Das ist beispielsweise dann sinnvoll, wenn der Antragsgegner ohnehin eine endgültige Klärung in einem Hauptsacheprozess anstrebt. Wird innerhalb der vom Gericht gesetzten Frist keine Klage erhoben, ist die einstweilige Verfügung auf Antrag aufzuheben, §§ 936, 926 Abs. 2 ZPO. Diesen Weg hat wohl Böhmermann wohl gewählt.

(Jedenfalls im zweiten Examen sollte übrigens auch die richtige Bezeichnung der Beteiligten bekannt sein: Im Beschlussverfahren werden die Beteiligten als „Antragsteller/Antragsgegner“ bezeichnet, verhandelt das Gericht mündlich, heißen die Beteiligten „Verfügungskläger/Verfügungsbeklagter“.)

d) Vollstreckung der Unterlassungsverfügung/Androhung von Ordnungsmitteln

Vollstreckt werden Unterlassungsansprüche gem. § 890 Abs. 1 ZPO durch Verhängung von Ordnungsgeld bzw. Ordnungshaft. Erlässt das Gericht – wie in beiden Fällen – die beantragte Verfügung, wird es auf Antrag gem. § 890 Abs. 2 ZPO die Androhung der Ordnungsmittel schon in den Beschluss bzw. das Urteil aufnehmen (s. den Beschluss des LG Dresden.)

Die latente Empörung von Herrn Prantl in der Süddeutschen Zeitung über die Ordnungsmittelandrohung durch das LG Dresden liegt deshalb ziemlich neben der Sache.

3. Der zuständige Spruchkörper – Kammer/Einzelrichter

Erstaunlich viel sachlich schlicht unrichtige Ausführungen waren in den letzten Tagen (u.a. auf ZEIT ONLINE und im Tagesspiegel) auch über den zur Entscheidung berufenen Spruchkörper des Landgerichts Dresden zu finden.

Wann die Kammer (mit drei Berufsrichtern) und wann der Einzelrichter entscheidet, richtet sich nach §§ 348, 348a ZPO. Gem. § 348 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist grundsätzlich der Einzelrichter zuständig (sog. originärer Einzelrichter). Der Einzelrichter kann die Sache gem. § 348 Abs. 3 ZPO unter den dort genannten Voraussetzungen der Kammer zur Übernahme vorlegen.

Gehört der Rechtsstreit hingegen zu einem der in § 348 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 ZPO genannten Rechtsgebiete, ist grundsätzlich die Kammer zuständig. In beiden hier relevanten Fällen dürfte es sich um „Streitigkeit über Ansprüche aus Veröffentlichungen durch Druckerzeugnisse, Bild- und Tonträger jeder Art, insbesondere in Presse, Rundfunk, Film und Fernsehen“ i.S.d. § 348 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 lit. a ZPO handeln. Deshalb war grundsätzlich die Kammer zuständig.

Die Kammer kann den Rechtsstreit jedoch gem. § 348a Abs. 1 ZPO unter den dort genannten Voraussetzungen durch Beschluss auf den Einzelrichter übertragen (sog. obligatorischer Einzelrichter). Genau das ist hier passiert; die 3. Zivilkammer des Landgerichts Dresden hat das Verfahren am 10.05.2016 auf den Einzelrichter übertragen (den Beschluss hat der Bloggerkollege Hoenig).

Und auch wenn man bezweifeln möchte, ob die Voraussetzungen von § 348a Abs. 1 ZPO hier vorlagen (s. dazu auch diesen Kommentar unter dem Artikel): Gem. § 348a Abs. 3 ZPO wäre eine zu Unrecht erfolgte Übertragung juristisch irrelevant. Entschieden hat der gem. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zuständige Richter. (Etwas anderes ist die Frage, ob der Einzelrichter die Sache gem. § 348a Abs. 2 ZPO der Kammer zur (Rück-)Übernahme vorlegen sollte, wie es einige Presserechtler im Spiegel fordern.)

Juristisch unhaltbar ist es daher, wenn auf ZEIT-ONLINE die Rede davon ist, die Entscheidung verstoße insoweit „gegen die Zivilprozessordnung, gegen das Gerichtsverfassungsgesetz und letztlich auch gegen das Grundgesetz“. Und es handelt sich auch nicht um einen „unzuständigen Richter“, wie der Tagesspiegel unter Berufung auf Kailitz' Anwalt schreibt.

4. Und zuletzt: Darf ein Mitglied der AfD über einen Rechtsstreit entscheiden, an dem die NPD beteiligt ist?

In großen Teilen der Berichterstattung (insbesondere in den Artikeln der Süddeutschen Zeitung und des Tagesspiegel, mit übrigens wortgleicher Überschrift) klingt auch die mehr oder weniger latente Empörung mit, dass ein Richter, der Mitglied der AfD ist, über einen Antrag der NPD entscheide.

Aber auch das ist jursitisch ohne Belang: Allein aufgrund der Mitgliedschaft in einer (anderen, nicht verbotenen) Partei war der Richter nicht gem. § 41 ZPO von der Mitwirkung an der Entscheidung ausgeschlossen. Und wenn Herr Kailitz befürchtet, der Richter stehe ihm nicht unvoreingenommen gegenüber (so beispielsweise die taz), kann er den Richter gem. § 42 ff. ZPO wegen Besorgnis der Befangenheit ablehnen (worauf übrigens auch das Landgericht Dresden zu Recht hinweist).

5. Fazit

Inhaltlich kann man beide Entscheidungen (m.E. in beiden Fällen zu Recht) kritisieren, prozessrechtlich findet sich weit und breit kein Anlass für Empörung.

Update vom 25.05.2016: Das Ganze gibt's ausführlicher und wortgewaltiger auch vom Kollegen Schütz im delegibus-Blog.

Hinweis: der Beitrag ist in den letzten Tagen teilweise ergänzt worden.

Foto: Jonas Rogowski | wikimedia.org | CC BY-SA 3.0