BVerfG: Verstoß gegen § 937 Abs. 2 ZPO kann mit Verfassungsbeschwerde angreifbar sein

Bild des BundesverfassungsgerichtsEin wirklicher „Knaller“ im Presserecht ist der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 06.06.2017 zu den Aktenzeichen 1 BvQ 16/17, 1 BvQ 17/17, 1 BvR 764/17 und 1 BvR 770/17. Denn das Bundesverfassungsgericht erklärt darin im Grundsatz die Verfassungsbeschwerde gegen solche Beschlüsse für statthaft, die der gängigen Praxis folgend auch ohne besondere Dringlichkeit durch Beschluss ohne rechtliches Gehör des Antragsgegners erlassen werden. 
Sachverhalt
In der Sache geht es um zwei presserechtliche Verfahren gegen das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ vor dem Landgericht Hamburg, in denen dem Spiegel bestimmte Passagen der beanstandeten Artikel untersagt wurden. Die nicht begründeten Unterlassungsverfügungen wurden in einem Fall dreieinhalb, im anderen Fall fünf Wochen nach Antragstellung ohne mündliche Verhandlung erlassen. Der Spiegel erhob dagegen jeweils Widerspruch, auf den hin das Gericht Termine zur mündlichen Verhandlung anberaumte; die Anträge, die Zwangsvollstreckung aus den Beschlüssen einstweilen einzustellen (§§ 924 Abs. 3, 707 ZPO), lehnte das Landgericht ab. Das Landgericht hat zwischenzeitlich in beiden Verfahren mündlich verhandelt und durch Urteil entschieden. Gegen die Beschlüsse, mit denen der Antrag auf Einstellung der Zwangsvollstreckung abgelehnt wurde, wendet sich die Verlagsgesellschaft des Spiegel mit ihrer Verfassungsbeschwerde, mit der sie die Aufhebung dieser Beschlüsse sowie die Einstellung der Zwangsvollstreckung im Wege der einstweiligen Anordnung (§ 32 BVerfGG) begehrt. Sie die Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehörs, ihrer Meinungs- und Pressefreiheit sowie ihrer Rechte auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 GG und auf ein faires Verfahren aus Art. 20 Abs. 3 GG. Das Landgericht habe den Antragstellern des Verfügungsverfahrens telefonisch Hinweise erteilt, ohne dass deren Inhalt der Beschwerdeführerin zur Kenntnis gebracht worden wären. Außerdem entscheide die Pressekammer des Landgerichts Hamburg in einstweiligen Verfügungsverfahren seit fünf Jahren in ständiger Praxis ohne vorherige mündliche Verhandlung, auch wenn keine besondere Dringlichkeit bestehe.

Ursprünglich hatten hier die Betroffenen einer Berichterstattung der späteren Beschwerdeführerin vor dem Landgericht Hamburg äußerungsrechtliche Unterlassungsansprüche (§ 1004 BGB i.V.m. mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht) geltend gemacht. Das Landgericht hatte den Betroffenen Hinweise erteilt (§ 139 Abs. 1 ZPO), wie die Anträge zweckmäßigerweise gestellt werden sollten und mehrere Wochen nach Eingang der Anträge ohne mündliche Verhandlung die begehrten einstweiligen Verfügungen erlassen. Das entspricht der in vielen Bereichen gängigen Praxis, einstweilige Verfügungen immer oder fast immer zunächst ohne mündliche Verhandlung und ohne Gewährung rechtlichen Gehörs zu erlassen und den jeweiligen Gegner auf die Möglichkeit zu verweisen, dagegen Widerspruch (§ 924 ZPO) einzulegen. Denn auf den Widerspruch ist eine mündliche Verhandlung anzuberaumen, im Rahmen derer dem Gegner rechtliches Gehör gewährt wird. Diese Praxis wird vielfach kritisiert, weil sie mit dem in § 937 Abs. 2 ZPO zum Ausdruck kommenden Regel-Ausnahme-Verhältnis (mündliche Verhandlung als Regelfall) nicht zu vereinbaren ist. Da es aber gegen die so erlassene einstweilige Verfügung nur den Rechtsbehelf des Widerspruchs gibt und damit das rechtliche Gehör immer nachträglich gewährt wird, ist diese Praxis nicht mit Rechtsmitteln angreifbar und weit verbreitet. Siehe dazu ausführlich auch diesen Artikel. Zusammen mit dem Widerspruch hatte die Beschwerdeführerin auch beantragt, die Zwangsvollstreckung aus den so zustande gekommenen Beschlüssen einstweilen einzustellen (§§ 924 Abs. 3 i.V.m. 707 ZPO). Diese Anträge hatte das Landgericht abgewiesen. Da gegen diese Entscheidung gem. § 707 Abs. 2 Satz 2 ZPO kein Rechtsmittel statthaft ist (§ 90 Abs. 2 BVerfGG), hatte die Beschwerdeführerin Verfassungsbeschwerde eingelegt und außerdem beantragt, das Bundesverfassungsgericht möge im Wege einer einstweiligen Anordnung die vom Landgericht abgelehnte Einstellung der Zwangsvollstreckung anordnen.
Entscheidung
Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerden im Ergebnis zwar nicht zur Entscheidung angenommen, die Ausführungen sind aber trotzdem bemerkenswert:

„Soweit sich die Beschwerdeführerin gegen die Ablehnung der einstweiligen Einstellung der Zwangsvollstreckung wendet, haben sich die von ihr unmittelbar angegriffenen Beschlüsse erledigt.

Ein fortwirkendes Rechtsschutzinteresse besteht auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer Wiederholungsgefahr […]. Die Beschlüsse erschöpften sich in der Ablehnung des Antrags auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung. Die Beschwerdeführerin hat einen hierin liegenden Verstoß gegen Verfassungsrecht nicht substantiiert. Insbesondere hat sie nicht geltend gemacht, dass sie insoweit ein spezifisches Interesse an vorläufigem Vollstreckungsschutz gehabt habe, sondern beruft sich – hier wie vor den Fachgerichten – allein auf Gehörsverstöße bezüglich der insoweit zugrundeliegenden einstweiligen Verfügung.

Dass es insoweit aber auf verfassungsrechtliche Bedenken stößt, wenn die Fachgerichte den Antrag auf die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung nach § 936, § 924 Abs. 3 Satz 2, § 707 ZPO nicht für geeignet halten, um unabhängig von einem sachlichen Vollstreckungsschutzinteresse mittelbar Grundrechtsverletzungen zu rügen, die sich auf die zugrundeliegenden einstweiligen Verfügungen beziehen, ist nicht ersichtlich.“

Damit hätte es schon sein Bewenden haben können. Die Kammer wollte aber offensichtlich noch etwas „loswerden“:

„Auch soweit die Verfassungsbeschwerden so auszulegen sein sollten, dass die Beschwerdeführerin mittelbar eine Verletzung ihrer Grundrechte durch die ihrer Ansicht nach prozessrechtswidrig erlassenen einstweiligen Verfügungen selbst rügt, sind die Verfassungsbeschwerden unzulässig.

Eine gegen sie gerichtete Verfassungsbeschwerde kann jedenfalls zurzeit keinen Erfolg haben.

aa) Die gerügte Verletzung rechtlichen Gehörs ist nach Durchführung der mündlichen Verhandlungen geheilt.

Die Funktionenteilung zwischen der Fach- und Verfassungsgerichtsbarkeit betraut zunächst die Fachgerichte mit der Korrektur bereits verwirklichter Grundrechtseingriffe […]. Im Besonderen – so auch hier – gilt das für die grundsätzlich mögliche Heilung von Gehörsverstößen durch nachträgliche Gewährung rechtlichen Gehörs […]. Die Beschwerdeführerin hat selbst hervorgehoben, dass das Landgericht ihr im Zuge der auf ihren Widerspruch nach §§ 936, 924 Abs. 2 Satz 2 ZPO veranlassten mündlichen Verhandlungen rechtliches Gehör gewähren würde. Insoweit war sie nach § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG von vornherein auf den Rechtsweg zu verweisen.

bb) Soweit die Beschwerdeführerin der Sache nach eine Verletzung ihrer Rechte auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 GG und auf ein faires Verfahren aus Art. 20 Abs. 3 GG durch die einstweiligen Verfügungen selbst rügt, sind ihre Verfassungsbeschwerden verfristet.

Die Beschwerdeführerin macht geltend, dass ihr vor Erlass der einstweiligen Verfügungen ohne sachlichen Grund und unter bewusster Umgehung ihrer prozessualen Rechte das rechtliche Gehör verwehrt würde, während das Landgericht zugleich der Antragstellerseite telefonische Hinweise erteile, die weder offen gelegt würden noch überhaupt rekonstruierbar seien. Das Landgericht verlasse sich dabei auf die von der Rechtsprechung für Eilfälle und Sondersituationen anerkannten Heilungsmöglichkeiten, um die Entscheidung entsprechend ständiger Praxis zunächst sehenden Auges unter Übergehung der prozessualen Rechte der Beschwerdeführerin zu treffen; hierdurch würden ihre Verteidigungsmöglichkeiten beeinträchtigt.

Die Verfassungsbeschwerden sind hinsichtlich dieser Rügen verfristet. Maßgeblich für den Fristbeginn ist insoweit der Zeitpunkt der Entscheidung über die einstweiligen Verfügungen. Die Rügen beziehen sich auf eine Rechtsverletzung unmittelbar durch die einstweiligen Verfügungen selbst.

Dabei können die Verfügungen hinsichtlich der insoweit geltend gemachten Grundrechtsverletzungen vor den Fachgerichten aber nicht wirksam angegriffen werden. Zwar können die einstweiligen Verfügungen in Blick auf andere Rechtsverletzungen – materieller Art, aber auch wegen Verstoßes gegen das rechtliche Gehör – fachgerichtlich angegriffen werden und kann diesbezüglich möglicherweise auch ihre Aufhebung erreicht werden.

Die geltend gemachte Grundrechtsverletzung des bei Erlass der Verfügungen bewussten Übergehens prozessualer Rechte kann damit jedoch nicht beseitigt werden. Auch gibt es insoweit keine prozessrechtliche Möglichkeit, etwa im Wege einer Feststellungsklage eine fachgerichtliche Kontrolle eines solchen Vorgehens zu erwirken.

Demzufolge kann aber eine Verfassungsbeschwerde in diesen Fällen unmittelbar gegen die einstweilige Verfügung selbst erhoben werden. Zwar kann auch die Verfassungsbeschwerde die gerügten Rechtsverletzungen nicht mehr beseitigen. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass sie auf ein fortwirkendes Feststellungsinteresse gestützt werden kann.

Die für eine unmittelbar gegen die einstweiligen Verfügungen gerichtete Verfassungsbeschwerde geltende Monatsfrist des § 93 Abs. 1 BVerfGG ist indes abgelaufen.“

Anmerkung
Die letzten Absätze lesen sich geradezu wie eine Anleitung für künftige Verfassungsbeschwerden gegen unter Missachtung von § 937 Abs. 2 ZPO zustande gekommene Beschlüsse. Ob das Bundesverfassungsgericht das ggf. erforderliche Fortsetzungsfeststellungsinteresse allerdings in sämtlichen Fällen bejahen wird, darf aber bezweifelt werden. Bleibt die spannende Frage, ob sich die Pressekammer des Landgerichts Hamburg davon beeindrucken lässt, wenn ihre einstweiligen Verfügungen künftig wegen Verstoßes gegen § 937 Abs. 2 ZPO aufgehoben werden. Angesichts der Vielzahl der wegen Verstoßes gegen Art. 5 Abs. 1 GG aufhebenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und der darin zum Ausdruck kommenden „Resilienz“ habe ich da aber ehrlich gesagt wenig Hoffnung. tl;dr: Eine einstweilige Verfügung, die unter bewusster Umgehung der sich aus § 937 Abs. 2 ZPO ergebenden prozessualen Rechte ergangen ist, kann unmittelbar mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden. Anmerkung/Besprechung, BVerfG, Beschluss vom 06.06.2017 - 1 BvQ 16/17, 1 BvQ 17/17, 1 BvR 764/17 und 1 BvR 770/17. Foto: Tobias Helfrich | Karlsruhe bundesverfassungsgerichtCC BY-SA 3.0