„Berliner Landrecht“ zum Vieraugengespräch?

Bild des KammergerichtsNeben der Präklusion scheint kaum ein prozessuales Thema in der Praxis ähnlich schwierig zu sein wie die „richtige“ Beweisaufnahme in sog. Vieraugenkonstellationen sowie damit einhergehend die Bedeutung der Parteianhörung gem. § 141 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Dieser Problemkreis ist auch immer wieder Gegenstand bemerkenswert eigenwilliger obergerichtlicher Entscheidungen, wie beispielsweise dieses Urteils des OLG Naumburg. Nun hat sich das Kammergericht mit Urteil vom 11.07.2017 – 21 U 100/16 ebenfalls zu dieser Frage geäußert.
Sachverhalt
Nach dem Ende ihrer Beziehung verlangte der Kläger von der Beklagten Rückzahlung von 9.000 EUR. Diese hatte er während der Beziehung der Beklagten überwiesen, die damit Schulden getilgt hatte. Der Kläger behauptete nun, er habe der Beklagten das Geld nur als Darlehen gewährt. Die Beklagte behauptete, der Kläger habe ihr das Geld geschenkt. Und da niemand bei den Gesprächen der Parteien anwesend war, hörte das Landgericht beide Ehegatten an und wies die Klage schließlich mit der Begründung ab, der Kläger habe einen Darlehensvertrag „nicht hinreichend behauptet“. Dagegen wendete sich der Kläger mit seiner Berufung.

Die Parteianhörung gem. § 141 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist kein Beweismittel i.S.d. ZPO. Trotzdem ist allgemein anerkannt, dass das Gericht auch den Inhalt einer Parteianhörung im Rahmen der Beweiswürdigung verwerten kann und ggf. muss. Insbesondere in Fällen, in denen für den Inhalt eines Gesprächs nur einer Seite ein Zeuge zur Verfügung steht, ist aus Gründen der „Waffengleichheit“ die in Beweisnot befindliche Partei gem. § 141 ZPO anzuhören und ggf. gem. § 448 ZPO zu vernehmen. Hier konnte aber keine der Parteien einen Zeugen für den Inhalt der Vereinbarungen benennen. Deshalb hatte das Landgericht beide Parteien angehört, war aber auf Grundlage der Schilderung des Klägers nicht davon überzeugt, dass die Parteien einen Darlehensvertrag vereinbart hatten. Mangels weiterer Beweismittel hatte es deshalb die Klage abgewiesen.
Entscheidung
Das KG meint, es könne die Feststellungen des Landgerichts nicht gem. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO seiner Entscheidung zugrunde legen:

„a) Was die Parteien hinsichtlich der Überweisung und ihrer eventuellen Rückzahlung besprochen haben, ist zwischen ihnen streitig. Für seine Behauptung der Vereinbarung einer Rückzahlung trägt der Kläger die Beweislast (…).

Allerdings kann er einen geeigneten Beweisantritt unterbreiten, nämlich die Vernehmung der Beklagten als Partei. Dem muss ein Gericht gemäß § 445 Abs. 1 ZPO nachkommen. Im Anschluss daran ist aufgrund des Gebots der prozessualen Waffengleichheit der Kläger selbst auf seinen Antrag als Partei anzuhören oder zu vernehmen.

b) Diese Möglichkeit hat der Klägervertreter in der ersten Instanz nicht gesehen, er hat lediglich seine eigene Parteivernehmung beantragt. Ein Gericht muss ihn aber auf die dargestellte Möglichkeit hinweisen. Ordnungsgemäße Feststellungen, an die das Berufungsgericht gemäß § 529 Abs. 1 S. 1 ZPO gebunden wäre, lägen mithin allenfalls dann vor, wenn das erstinstanzliche Gericht die erforderliche Beweisaufnahme durchgeführt und ihr Ergebnis danach gewürdigt hätte.

c)Daran fehlt es. Das Landgericht hat beide Parteien gemäß § 141 Abs. 1 ZPO angehört. Eine Beweisaufnahme ist aber nur durchgeführt, wenn das Gericht eines der Beweismittel der ZPO erhoben hat. Dies sind der Augenschein (§§ 371 ff ZPO), die Zeugenvernehmung (§§ 373 ff ZPO), der Sachverständigenbeweis (§§ 402 ff ZPO), der Urkundenbeweis (§§ 415 ff ZPO) und die Parteivernehmung (§§ 445 ff ZPO).

Die Anhörung einer Partei gemäß § 141 Abs. 1 ZPO ist demgegenüber kein Beweismittel. Natürlich kann das Ergebnis einer Parteianhörung im Rahmen der Beweiswürdigung berücksichtigt und verwertet werden. Dies gilt aber für den gesamten Prozessstoff und beispielsweise auch für das schriftsätzliche Vorbringen der Parteien. Zum Beweismittel wird die Parteianhörung dadurch nicht.

d) Mithin hat das Landgericht durch die bloße Anhörung beider Parteien keine Beweisaufnahme durchgeführt.

e) Mangels Beweisaufnahme konnte das Landgericht auch keine Beweiswürdigung anstellen, auf die sich der Senat gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO hätte stützen können. Dies ist offenbar auch das eigene Verständnis des Landgerichts, denn in Auseinandersetzung mit dem Vorbringen und der Anhörung der Parteien gelangt es nach eigenem Bekunden gerade nicht zu einer Überzeugung im Sinne von § 286 Abs. 1 ZPO, sondern lediglich zu dem Ergebnis, der Kläger habe „den behaupteten Darlehensvertrag nicht hinreichend behauptet“. Damit hat es die Klage entweder (unzutreffend) an der fehlenden „Substanziierung“ des klägerischen Vorbringens oder vielleicht am fehlenden „Anfangsbeweis“ im Sinne von § 448 ZPO scheitern lassen.

f) Der Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit, der sich aus dem Recht auf gerichtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) ableitet, gebietet es nicht, die Parteianhörung gemäß § 141 Abs. 1 ZPO entgegen Wortlaut und Systematik der ZPO als Beweismittel anzusehen.

Aus dem Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit kann sich durchaus das Recht einer Partei ergeben, ihre Wahrnehmungen über eine streitige Tatsache dem Gericht für eine Würdigung zu präsentieren, wenn sie sich in Beweisnot befindet (…). Dieses „Präsentieren“ muss nicht zwangsläufig im Rahmen einer Parteivernehmung geschehen, vielmehr genügt es, wenn die betreffende Partei gemäß § 141 Abs. 1 ZPO angehört wird (…). Dies muss deshalb ausreichend sein, weil – wie erwähnt – auch die Angaben, die eine Partei in ihrer Anhörung macht, vom Gericht bei der Beweiswürdigung berücksichtigt werden können.

Ein solcher Anspruch einer Partei auf ihre Vernehmung oder Anhörung besteht aber nicht schon dann, wenn sie für ein bestrittenes Vorbringen keinen Zeugen hat. Ein solcher Prozessverlauf ist vielmehr Ausdruck des allgemeinen Lebensrisikos (BGH, Urteil vom 19.4.2002, V ZR 90/01). Das verfassungsrechtliche Gebot ihrer Vernehmung oder Anhörung ist Folge des Gebots der prozessualen Waffengleichheit, und greift nur dann ein, wenn im Prozess andernfalls eine Ungleichbehandlung drohte.

Dies ist erst dann der Fall, wenn das Gericht einen Zeugen vernommen hat, der dem Lager der Gegenseite (= Partei A) zuzurechnen ist, während es die Vernehmung der Partei B mit Hinweis auf § 447 ZPO verweigert (…). § 447 ZPO ist Ausdruck einer Skepsis des Gesetzes gegenüber den Angaben einer Partei in eigener Sache. Diese Skepsis kann gegenüber einem Zeugen aus dem Lager einer Partei aber genauso angebracht sein. Ist ein solcher Zeuge der Partei A vernommen worden, widerspräche es deshalb dem Gebot der Gleichbehandlung vor Gericht, gegenüber dem Antrag der Partei B auf ihre Vernehmung oder Anhörung auf § 447 ZPO zu beharren.

Nach Auffassung des Senats gibt es deshalb kein verfassungsrechtliches Gebot, es einer Partei zu ermöglichen, das Fehlen eines Beweismittels durch das Angebot ihrer Anhörung gemäß § 141 Abs. 1 ZPO zu überbrücken. Damit würde der Parteianhörung entgegen dem Wortlaut der ZPO die Stellung eines Beweismittels zugebilligt, mit der eine gerichtliche Beweisaufnahme eingeleitet werden kann, während ein gebundener Anspruch auf die eigene Parteivernehmung gemäß § 447 bzw. § 448 ZPO nicht besteht.

Anspruch auf Durchführung einer Parteianhörung (oder stattdessen einer Parteivernehmung) kann immer erst dann bestehen, wenn die Beweisaufnahme mit der Erhebung eines Beweismittels bereits begonnen hat. Wenn hier ein Zeuge aus dem Lager der Partei A vernommen worden ist, muss der Partei B ihre Anhörung oder – in verfassungsrechtlich gebotener Durchbrechung von § 447 ZPO – ihre Vernehmung zugebilligt werden.“

Nach einem Hinweis des Senats hat der Kläger dann die Parteivernehmung der Beklagten beantragt. Und nach Vernehmung der Beklagten und Anhörung des Klägers hat das KG der Klage stattgegeben, weil der Senat davon überzeugt war, dass sich die Parteien über die Rückzahlbarkeit dieses Geldes einig waren. Die Revision hat das KG nicht zugelassen, „da die Sache keine grundsätzliche Bedeutung hat und auch die Einheitlichkeit der Rechtsprechung keine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert.“
Anmerkung
Die Entscheidung macht mich irgendwie ratlos, und das nicht nur aufgrund des teilweise besserwisserisch-belehrenden Untertons. 1. Bemerkenswert ist schon die Annahme des Senats, es könne gem. § 529 Abs. 1 Ziff. 1 ZPO nur das Ergebnis einer „Beweisaufnahme“ zugrunde legen. Denn von einer „Beweisaufnahme“ ist in § 529 Abs. 1 Ziff. 1 ZPO gar nicht die Rede, sondern lediglich von „festgestellten Tatsachen“. Und diese Feststellungen wiederum beruhen auf der freien Beweiswürdigung des Gerichts (§ 286 ZPO), das sich seine Überzeugung nach dem ausdrücklichen Wortlaut von § 286 Abs. 1 ZPO „unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen UND des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme“ bilden soll - und zum „Inhalt der Verhandlung“ gehört fraglos auch das Ergebnis einer Parteianhörung. Genau das hatte das Landgericht hier ersichtlich gemacht, auch wenn es sich dabei vielleicht etwas ungeschickt ausgedrückt hatte. 2. Vor allem muss sich eine Partei in Beweisnot aber nach der ständigen Rechtsprechung des BGH gerade nicht auf Beweismittel aus dem „Lager“ der Gegenseite berufen (BGH, Urteil vom 08.07.2010 - III ZR 249/09 Rn. 16; Urteil vom 19. 4. 2002 - V ZR 90/01; ausf. auch OLG Frankfurt, Urteil vom 10.10.2012 – 19 U 235/11 Rn. 34). Mit dieser ständigen Rechtsprechung des BGH setzt sich der Senat aber gar nicht auseinander, sondern zitiert lediglich (sinnentstellend) eine Entscheidung des BGH und verweist ansonsten apodiktisch auf die „Auffassung des Senats“. Im Ergebnis also: Einen Fall abweichend vom BGH entscheiden, die Entscheidung mit Leitsätzen veröffentlichen und die Revision nicht zulassen. Kann man schon so machen, ... tl;dr: Entscheidung besser vergessen. Wie es besser/richtig geht, steht in einem sensationell guten Artikel von Greger in der MDR 2014, 312 („Die Partei als Erkenntnis- und Beweismittel im Zivilprozess“). Anmerkung/Besprechung, KG, Beschluss vom 11.07.2017 – 21 U 100/16. Foto: Axel Mauruszat | Kammergericht Kleistpark | CC BY 2.0 DE