Versäumnisurteil trotz möglicher Prozessunfähigkeit?

Dass sich die beklagte Partei darauf beruft, prozessunfähig zu sein, ist praktisch gar nicht selten. Mit Urteil vom 08.07.2021 – III ZR 344/20 hat der Bundesgerichtshof nun sehr lesenswert klargestellt, wie Gerichte in solchen Fällen vorgehen und was sie vor Erlass eines Versäumnisurteils beachten müssen.

Sachverhalt

Die Klägerin nimmt die Beklagte in einer Kapitalanlagesache auf Schadensersatz bzw. Rückzahlung eines Darlehens in Anspruch. Die seit längerem in psychiatrischer Behandlung befindliche Beklagte beruft sich u.a. darauf, prozessunfähig zu sein. Der Rechtsstreit war mehrere Jahre wegen eines parallel gegen die Beklagte geführten Strafprozesses ausgesetzt. Nach Wiederaufnahme gab das Berufungsgericht ein Gutachten über die Prozessfähigkeit der Beklagten in Auftrag. Allerdings verweigerte die Beklagte ihre persönliche Exploration zunächst mit der Begründung, ihr bereits Jahre zuvor gestellter Prozesskostenhilfeantrag sei noch nicht beschieden und sie sei außerstande, die Kosten zu tragen. Der Sachverständige hat daraufhin ein Gutachten nach Aktenlage erstellt, auf deren Grundlage sich die Prozessunfähigkeit der Beklagten nicht hat feststellen lassen. Nach Eingang des Gutachtens und Bewilligung der Prozesskostenhilfe hat sich die Beklagte schließlich doch noch bereit erklärt, sich explorieren zu lassen. Ohne ein ergänzendes Gutachten in Auftrag zu geben beraumte das Berufungsgericht jedoch einen Termin zur mündlichen Verhandlung an, zu dem für die Beklagte niemand erschienen ist. Daraufhin ist gegen sie ein (erstes) Versäumnisurteil ergangen. Dagegen hat die Beklagte (rechtzeitig) Einspruch eingelegt. Im Einspruchstermin erschien für die Beklagte wiederum niemand, woraufhin ein zweites Versäumnisurteil ergangen ist. Dagegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Revision.

Das Berufungsgericht hatte die Beklagte hier durch erstes und dann zweites Versäumnisurteil verurteilt. Die Geständniswirkung (§ 331 Abs. 1 Satz 1 ZPO) erfasst aber nicht die unverzichtbaren Prozessvoraussetzungen. Ein Versäumnisurteil darf deshalb gem. § 335 Abs. 1 Nr. 1 ZPO aber nur ergehen, wenn die erschienene Partei „die vom Gericht wegen eines von Amts wegen zu berücksichtigenden Umstandes erforderte Nachweisung nicht zu beschaffen vermag“. Von Amts wegen zu berücksichtigen ist gem. § 56 ZPO insbesondere ein Mangel der Prozessfähigkeit. Auf diese hatte sich die Beklagte hier berufen. Nach dem Gutachten ließ sich diese nicht sicher feststellen, weshalb grundsätzlich gem. § 335 Abs. 1 Nr. 1 ZPO gegen die Beklagte kein Versäumnisurteil ergehen durfte. Fraglich war aber, ob dies hier anders war, weil die Beklagte an der Begutachtung nicht mitgewirkt und eine Exploration (Untersuchung) durch den vom Gericht bestellten Sachverständigen zunächst abgelehnt hatte.

Entscheidung

Der III. Zivilsenat hat das zweite Versäumnisurteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. Der Senat führt zunächst aus, dass die Revision gegen das zweite Versäumnisurteil ohne Zulassung und wertunabhängig zulässig sei (vgl. auch § 514 Abs. 2 ZPO). Außerdem stehe die (möglicherweise) fehlende Prozessfähigkeit der Zulässigkeit der Revision nicht entgegen. Die Partei sei bis zur abschließenden Klärung dieser Frage als prozessfähig zu behandeln und könne auch materiell-rechtlich wirksam eine Prozessvollmacht erteilen. Das gegen die Beklagte gerichtete zweite Versäumnisurteil sei aber nicht in gesetzlicher Weise ergangen.

a) Der Antrag auf Erlass eines Versäumnisurteils ist zurückzuweisen, wenn die erschienene Partei die vom Gericht wegen eines von Amts wegen zu berücksichtigenden Umstands erforderte Nachweisung nicht zu beschaffen vermag (§ 335 Abs. 1 Nr. 1 iVm § 525 ZPO). Hierzu gehört die Prozessfähigkeit der Parteien. Diese ist zwingende und unverzichtbare Prozessvoraussetzung (…). Unerheblich ist, ob dem Gericht die Umstände, die dem Erlass eines Versäumnisurteils entgegenstehen, bekannt waren (…). Bevor die Frage der Prozessfähigkeit der Parteien nicht in dem Sinne geklärt ist, dass diese besteht, darf eine Sachentscheidung nicht ergehen (…). Gegen einen prozessunfähigen Beklagten darf mithin kein Versäumnisurteil erlassen werden.

b) Im Zeitpunkt des Erlasses des zweiten Versäumnisurteils war – ebenso wie bei Beauftragung ihrer (zuletzt tätig gewesenen) Prozessbevollmächtigten – eine Prozessunfähigkeit der Beklagten nicht auszuschließen. Die ihm diesbezüglich zur Verfügung stehenden und damit zu nutzenden Erkenntnisquellen hatte das Berufungsgericht noch nicht ausgeschöpft.

(1) Geschäfts- und damit prozessunfähig ist, wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist (§ 104 Nr. 2 BGB, § 51 Abs. 1, § 52 ZPO…).

(2) Sind konkrete Anhaltspunkte dafür gegeben, dass Prozessunfähigkeit einer Partei vorliegen könnte, so hat das Gericht – das heißt die jeweils mit der Sache befasste Instanz – wegen dieser eine Prozessvoraussetzung betreffenden Frage von Amts wegen (vgl. § 56 Abs. 1 ZPO) Beweis zu erheben, wobei es nicht an die förmlichen Beweismittel der Zivilprozessordnung gebunden ist, weil der Grundsatz des Freibeweises gilt (…). Für den Eintritt in die Beweisaufnahme genügt, dass nach dem Tatsachenvortrag die Möglichkeit der Prozessunfähigkeit nicht von der Hand zu weisen ist (…).

Solche konkreten Anhaltspunkte hat das Berufungsgericht hier zutreffend darin erblickt, dass sich die Beklagte nach den Attesten des Direktors der Klinik für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin des Städtischen Klinikums (…) und nach einem im Strafverfahren eingeholten amtsärztlichen Gutachten (…) wegen einer rezidivierenden depressiven Störung seit vielen Jahren in – teilweise stationärer oder teilstationärer – psychiatrischer Behandlung befand und ihr insoweit bis auf weiteres Verhandlungsunfähigkeit bescheinigt worden war. Es hat daher zur Klärung der vor diesem Hintergrund ebenfalls nicht auszuschließenden Prozessunfähigkeit der Beklagten ein Gutachten (…) eingeholt.

Auf der Grundlage der daraus zu gewinnenden Erkenntnisse konnte das Berufungsgericht nicht von der Prozessfähigkeit der Beklagten ausgehen. Zwar hat der Sachverständige (…) den Akten keine Anknüpfungsbefunde entnehmen können, die die Annahme von Prozessunfähigkeit nahelegten. Ob eine persönliche Untersuchung – die die Beklagte wegen des damit verbundenen (weiteren) Kostenrisikos mangels Gewährung von (notwendiger) Prozesskostenhilfe (§ 119 ZPO) aus nachvollziehbarem Grund zunächst verweigert hatte – und die Auswertung sämtlicher (teils nicht vorliegender) Krankenunterlagen beziehungsweise Vorbefunde ein anderes Ergebnis rechtfertigen würden, hat der Sachverständige jedoch offengelassen. Nach der (rückwirkenden) Bewilligung von Prozesskostenhilfe hat die Beklagte ihre Bereitschaft zur Exploration durch den Sachverständigen angezeigt. Damit stand eine weitere Erkenntnisquelle zur Beurteilung der Prozessfähigkeit der Beklagten zur Verfügung, so dass das Oberlandesgericht eine Ergänzung des Gutachtens hätte veranlassen müssen. Dazu wird in dem neu eröffneten Berufungsverfahren, mit dem die Sache in den Stand nach Erlass des (ersten) Versäumnisurteils und des Eingangs des dagegen gerichteten Einspruchs zurückversetzt wird, erneut Gelegenheit bestehen. (…)

Das zweite Versäumnisurteil ist daher gemäß § 562 Abs. 1 ZPO aufzuheben. (…)

Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:

Sollte sich die Prozessfähigkeit der Beklagten auch nach ihrer persönlichen Begutachtung und der etwaigen Auswertung weiterer Vorbefunde nicht klären lassen, kann – soweit nach Erschöpfung aller erschließbaren Erkenntnisse hinreichende Anhaltspunkte für eine Prozessunfähigkeit verbleiben – nach ständiger Rechtsprechung die Prozessfähigkeit nicht bejaht werden, was zulasten der ein Sachurteil erstrebenden Partei zur Abweisung der Klage durch Prozessurteil führt (…). Ist nach der Prüfung trotz Erschöpfung aller erschließbaren Erkenntnisquellen die Prozessfähigkeit weder klar zu bejahen noch eindeutig zu verneinen, bleiben aber ernsthafte und begründete Zweifel an der Prozessfähigkeit bestehen, so kann das Verfahren nicht auf die Gefahr seiner Mangelhaftigkeit und der sich daraus möglicherweise später ergebenden Rechtsfolgen hin fortgesetzt werden (…). Die Beweislastregelung, wie sie im bürgerlichen Recht hinsichtlich der Voraussetzungen des § 104 Nr. 2 BGB gilt, findet bei Entscheidungen über die Prozessfähigkeit keine Anwendung (…).

Sollten im neuen Berufungsverfahren begründete Zweifel an der Prozessfähigkeit der Beklagten verbleiben, ist es Sache des Oberlandesgerichts, den Parteien Gelegenheit zu geben, für eine ordnungsgemäße Vertretung der Beklagten – gegebenenfalls im Wege der Betreuung (§ 1896 BGB) – zu sorgen, die es ermöglicht, ein Sachurteil zu erlassen, oder der Beklagten in entsprechender Anwendung des § 57 ZPO einen Prozesspfleger zu bestellen (…). Kommt dies allerdings nicht zustande, wird auch das erste Versäumnisurteil aufzuheben und die Klage durch Prozessurteil abzuweisen sein.“

Anmerkung

Praktisch relevant scheint mir dabei vor allem der letzte Absatz der „Segelanweisung“, denn der Weg über das Betreuungsgericht ist in aller Regel schneller als die Einholung eines Gutachtens im Zivilprozess. Deshalb ist es oftmals zweckmäßig, wenn bei den oben genannten „konkreten Anhaltspunkten“ an der Prozessfähigkeit die entsprechenden Umstände unmittelbar dem Betreuungsgericht mitgeteilt werden mit der Bitte, die Einrichtung einer Betreuung zu prüfen. Leitet das Betreuungsgericht daraufhin ein Betreuungsverfahren ein, wird es in aller Regel entbehrlich sein, auch im Zivilprozess ein Gutachten einzuholen, weil dann (aufgrund der eingespielten Abläufe deutlich schneller) ein Sachverständigengutachten im Betreuungsverfahren vorliegt. Fehlt es an einer Geschäftsfähigkeit, wird das Betreuungsgericht unmittelbar für eine ordnungsgemäße Vertretung der Partei sorgen. Sollte das Betreuungsgericht davon absehen, (insoweit) eine Betreuung zu bestellen, kann das Prozessgericht die Betreuungsakten beiziehen und das im Betreuungsverfahren erstattete Gutachten verwerten, um so eigene Feststellungen zur Prozessfähigkeit zu treffen (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 11.10.2016 – 9 U 68/15). (Auf die datenschutzrechtlichen Einzelheiten der Beiziehung von Betreuungsakten soll hier nicht eingegangen werden, s. dazu Gietl, NZFam 2017, 681. Jedenfalls soweit der Inhalt der Betreuungsakte bzw. des darin enthaltenen Gutachtens für die Beurteilung der Prozessfähigkeit relevant ist, muss das Prozessgericht aber befugt sein, diese Erkenntnisse im Wege der Akteneinsicht zu verwerten, weil diese Umstände auch Gegenstand eines im Zivilprozess eingeholten Gutachtens wären.) Und, aus anwaltlicher Sicht vermutlich auch nicht ganz unwichtig: Mit dem Weg über das Betreuungsgericht werden die Kosten für das medizinische SV-Gutachten nicht zu Kosten des Rechtsstreits. tl;dr: Bei der Prozessfähigkeit handelt es sich um eine Sachurteilsvoraussetzung, die von Amts wegen in jeder Lage des Verfahrens zu klären ist. Bestehen begründete Zweifel an der Prozessfähigkeit einer Partei beziehungsweise sind die zur Verfügung stehenden Aufklärungsmöglichkeiten noch nicht erschöpft, darf deshalb ein gegen sie gerichtetes Versäumnisurteil nicht ergehen. (Leitsatz des BGH) Anmerkung/Besprechung, BGH, Urteil v. 08.07.2021 – III ZR 344/20. Foto: © Ehssan Khazaeli