Wer hätte es gedacht: Keine Anhörungsrüge ohne Gehörsverstoß!

ComQuat wikimedia CC BY-SA 3.0Wenn man über juristische Entscheidungen bloggt, vergisst man leicht, dass im Nachhinein vieles klarer und eindeutiger erscheint. Und trotzdem gibt es immer wieder Entscheidungen, die ich schlicht nicht verstehen kann.

So z.B. die Entscheidung der Vorinstnz, mit der sich der BGH in seinem Urteil v. 16.09.2014 – VI ZR 55/14 zu befassen hatte.

Sachverhalt

In der Sache ging es um „restliche Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall“, genauer: um die Höhe der fiktiven Nettoreparaturkosten, welche die beklagte Versicherung zu zahlen hatte. Die Versicherung wollte nämlich nur die Kosten einer von ihr benannten Werkstatt bezahlen, während der Kläger die Kosten der Reparatur in einer BMW-Werkstatt ersetzt haben wollte. Und da sich diese Beträge um ca. 1.000 EUR unterschieden, machte der Kläger diese Differenz gerichtlich geltend. Das Amtsgericht gab der Klage aber lediglich in Höhe von 27,71 EUR statt. (Sollten Nicht-Praktiker wie z.B. Studierende oder Referendare mitlesen: Aus derartigen, die Welt bewegenden Streitigkeiten besteht ein erheblicher Teil des Amtsrichterlebens.) Auch in der nächsten Instanz hatte der Kläger nicht mehr Erfolg: Das LG Arnsberg wies die Berufung zurück. Die Rechtsbeschwerde ließ das Gericht trotz eines dahingehenden Antrags des Klägers nicht zu und begründete dies auch.

Damit wäre die Sache eigentlich rechtskräftig abgeschlossen gewesen. Bekanntlich ist die Rechtsprechung zu fiktiven Reparaturkosten aber äußerst „ausdifferenziert“ bzw. „unübersichtlich“, je nach Sichtweise. Das Landgericht hatte daher in einem identisch gelagerten Parallelverfahren wohl eine „Rechtssache grundsätzlicher Bedeutung“ (§ 543 Abs. 2 ZPO) erkannt und dort die Revision zugelassen, nicht aber in diesem Verfahren. Das allein scheint erstaunlich genug. Auf einen als „Anhörungsrüge“ bezeichneten Schriftsatz des Klägervertreters ließ das Gericht dann aber – durch Beschluss(!) – auch in diesem Verfahren die Revision zu.

Ein Verständnis der Entscheidung setzt dreierlei voraus:

Erstens eine Kenntnis der wohl typisch deutschen Eigenart, über kaum etwas so erbittert zu streiten, wie über fiktive Schadensabrechnungen bei Pkw-Unfällen. Das gilt für Reparaturkosten wie Mietwagenkosten gleichermaßen.

Zweitens ein Grundverständnis des Rechtsmittels der Revision: Die Revision vor dem BGH ist grundsätzlich nur zulässig, wenn das Berufungsgericht sie aus einem der Gründe des § 543 Abs. 2 ZPO zulässt (grundsätzliche Bedeutung, Fortbildung des Rechts, Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung). Unterbleibt eine Zulassung, steht den Parteien gem. § 544 ZPO die Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH offen. Dann prüft der BGH die Zulassungsgründe und lässt ggf. selbst die Revision zu. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist aber erst ab einem Streitwert in Höhe von 20.000 EUR zulässig, § 26 Ziff. 8 EGZPO. Liegt der Streitwert darunter, steht kein Rechtsmittel zur Verfügung.

Und zuletzt ein Grundverständnis der Anhörungsrüge gem. § 321a ZPO (neben der Verfassungsbeschwerde ein klassischer „Querulantenrechtsbehelf“): Steht einer Partei ein weiterer Rechtsbehelf gegen eine Endentscheidung nicht zu und ist ihr Anspruch auf rechtliches Gehör übergangen worden, hat das Gericht auf Rüge der Partei das Verfahren fortzuführen, § 321a Abs. 1 ZPO. Die bereits erlassene Entscheidung wird dann gegenstandslos und das Verfahren in den Zeitpunkt vor Verletzung des rechtlichen Gehörs zurückversetzt.

Entscheidung

Das Vorgehen des LG Arnsberg darf und sollte einem hier seltsam vorkommen. Auch der BGH war merklich ungehalten und verwarf die Revision als unzulässig:

„Die Revision ist unzulässig, weil die Zulassungsentscheidung unstatthaft und verfahrensrechtlich nicht bindend ist.

Das Revisionsgericht ist gemäß § 543 Abs. 2 Satz 2 ZPO grundsätzlich an die Zulassung auch dann gebunden, wenn die seitens des Berufungsgerichts für maßgeblich erachteten Zulassungsgründe aus Sicht des Revisionsgerichts nicht vorliegen.

Durfte die Zulassung dagegen verfahrensrechtlich überhaupt nicht ausgesprochen werden, ist sie unwirksam. Das gilt auch für eine prozessual nicht vorgesehene nachträgliche Zulassungsentscheidung, die die Bindung des Gerichts an seine eigene Endentscheidung gemäß § 318 ZPO außer Kraft setzen würde […].

So kann die versehentlich unterlassene Zulassung nicht durch ein Ergänzungsurteil gemäß § 321 ZPO nachgeholt werden. Befasst sich das Berufungsurteil nämlich nicht ausdrücklich mit der Zulassung, spricht es damit aus, dass die Revision nicht zugelassen wird, und zwar auch dann, wenn das Berufungsgericht die Möglichkeit der Zulassung gar nicht bedacht hat.

Auch die Zulassung in einem Berichtigungsbeschluss gemäß § 319 ZPO bindet das Revisionsgericht nicht, wenn sich aus dem Urteil selbst keine - auch für Dritte erkennbare - offenbare Unrichtigkeit ergibt […].

Nichts anderes gilt, wenn das Berufungsgericht - wie hier - seine bewusste Entscheidung, die Revision nicht zuzulassen, verfahrensfehlerhaft aufgrund einer Anhörungsrüge gemäß § 321a ZPO ändert […].

2. Die Entscheidung des Berufungsgerichts ist schon deshalb verfahrensfehlerhaft, weil es nicht durch Beschluss entscheiden durfte, sondern gemäß § 321a Abs. 5 Satz 2 ZPO erneut in die mündliche Verhandlung eintreten und gemäß § 321a Abs. 5 Satz 3 ZPO i.V.m. § 343 ZPO durch Urteil entscheiden musste. Ob dies für sich genommen einer wirksamen Zulassung entgegensteht, kann offen bleiben. Denn auch in der Sache lagen die Voraussetzungen für eine Entscheidung gemäß § 321a ZPO nicht vor.

a) Die Anhörungsrüge räumt dem Gericht keine umfassende Abhilfemöglichkeit ein, sondern dient allein der Behebung von Verstößen gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör. Daran fehlt es hier.

Die unterbliebene Zulassung der Revision als solche kann den Anspruch auf rechtliches Gehör nicht verletzen, es sei denn, auf die Zulassungsentscheidung bezogener Vortrag der Parteien ist verfahrensfehlerhaft übergangen worden […]. Art. 103 Abs. 1 GG soll sichern, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die auf mangelnder Kenntnisnahme oder Erwägung des Sachvortrags der Prozessbeteiligten beruhen. Sein Schutzbereich ist auf das von dem Gericht einzuhaltende Verfahren, nicht aber auf die Kontrolle der Entscheidung in der Sache gerichtet […].

Entgegen der Auffassung des Landgerichts liegt offensichtlich keine Verletzung des rechtlichen Gehörs vor, die für die Ablehnung der Zulassung im Urteil vom 20. November 2013 erheblich war. Gemäß dem Protokoll hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers in der mündlichen Verhandlung am 20. November 2013 beantragt, die Revision gegen ein Urteil der Kammer zuzulassen. Am Schluss der Sitzung hat das Landgericht sein Urteil verkündet und die Revision nicht zugelassen. Die Begründung des Urteils zeigt, dass das Landgericht bewusst die Nichtzulassungsentscheidung getroffen hat, weil es in anderer Sache mit identischer Rechtsfrage die Revision zugelassen hat.

Unter diesen Umständen ist offensichtlich, dass nicht ein Klägervortrag übergangen wurde, welcher für die Zulassungsentscheidung erheblich wurde. Die Annahme einer Gehörsverletzung im Beschluss des Landgerichts dient offensichtlich nur dazu, eine fehlerhafte Zulassungsentscheidung zu korrigieren, ohne dass die Voraussetzungen für eine Gehörsverletzung im Sinne des § 321a ZPO gegeben waren […].“

Der BGH wendet sich dann noch den zur Rechtsbeschwerde entwickelten Grundsätze einer entsprechenden Anwendung von § 321a ZPO zu. Bei der Rechtsbeschwerde sei anerkannt, dass diese auf eine Gegenvorstellung hin ggf. analog § 321a ZPO zuzulassen sei, wenn die Zulassung willkürlich unterblieben sei. Für das Revisionsverfahren stünde aber grundsätzlich die Nichtzulassungsbeschwerde gem. § 544 ZPO zur Verfügung, so dass die Interessenlage nicht vergleichbar sei.

Anmerkung

Wer mitgezählt hat: dreimal „offensichtlich“. Liest sich nicht wirklich nett, wenn der BGH einem das ins Stammbuch schreibt. Ist aber wohl auch schwierig, das netter auszudrücken.

tl; dr: Die Anhörungsrüge dient nur dazu, Gehörsverstöße zu heilen. Sie räumt dem Gericht keine umfassende Abhilfemöglichkeit ein. Lässt das Gericht daher nachträglich die Revision zu, obwohl gar kein Gehörsverstoß vorliegt, bindet diese Zulassung das Revisionsgericht nicht.

Anmerkung/Besprechung, BGH, Urteil v. 16.09.2014 – Vi ZR 55/14.

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