BAG zu Zeugnisverweigerungsrecht und prozessualer Wahrheitspflicht

Bild des BundesarbeitsgerichtsDie prozessuale Wahrheitspflicht führt in der Praxis - leider - nicht selten eher ein Schattendasein und gerät regelmäßig in Vergessenheit. Zu was für kuriosen – weil im Ergebnis völlig selbstverständlichen – Ergebnissen das führen kann, zeigt sehr eindrücklich der Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 02.08.2017 – 9 AZB 39/17. Sachverhalt Dem zugrunde lag ein Kündigungsschutzprozess, in dem sich die Klägerin gegen die Kündigung durch den beklagten Verein wehrte. Der Beklagte stützte die Kündigung auf den Vorwurf, die Klägerin und der drittbeteiligte Zeuge hätten gemeinsam das Mitgliederverzeichnis des Beklagten manipuliert und einen Herrn H mit einer seit 2004 bestehenden Mitgliedschaft aufgenommen, damit dieser bei den anstehenden Vorstandswahlen kandidieren könne. Der Zeuge berief sich vor dem Arbeitsgericht hinsichtlich seiner Beteiligung an der Manipulation auf ein Zeugnisverweigerungsrecht und gab an, ihm sei ebenfalls fristlos gekündigt worden und er beabsichtige, den Beklagten auf ausstehendes Honorar für den Zeitraum der bei einer ordentlichen Kündigung geltenden Kündigungsfrist zu verklagen. Das Arbeitsgericht hat die Zeugnisverweigerung mit Zwischenurteil für rechtmäßig erklärt, weil dem Zeugen ein unmittelbarer Vermögensschaden i.S.d. § 384 Ziff. 1 ZPO drohe. Das LAG hat auf die sofortige Beschwerde des Beklagten das Urteil abgeändert und festgestellt, dass dem drittbeteiligten Zeugen kein Zeugnisverweigerungsrecht zustehe. Dagegen richtet sich die zugelassene Rechtsbeschwerde.

Der Zeuge hatte sich geweigert, Angaben zu den von der Beklagten behaupteten Manipulationen der Mitgliederliste zu machen und sich dazu auf § 384 Ziff. 1 ZPO berufen. Das hatte er wie folgt begründet: Er halte seine fristlose Kündigung für unwirksam, ihm hätte nur ordentlich gekündigt werden dürfen. Für den Zeitraum zwischen seiner (fristlosen) Kündigung und dem Ablauf der bei einer ordentlichen Kündigung einzuhaltenden Frist wolle er deshalb noch die ihm zustehende Vergütung vom Beklagten einklagen. Dahinter stand ersichtlich die Erwägung, dass der Zeuge bei einer Aussage ggf. die Manipulation einräumen müsste und im beabsichtigten Folgeprozess dann kaum Chancen hätte, weil dann die fristlose Kündigung wohl wirksam gewesen sein dürfte. Deshalb war der Zeuge der Ansicht, ihm drohe bei einer wahrheitsgemäßen Aussage ein Vermögensnachteil - nämlich ein Verlust des Vergütungsanspruchs. Dem war das Arbeitsgericht auch gefolgt und hatte mit Zwischenurteil (§ 387 ZPO) die Zeugnisverweigerung für unrechtmäßig erklärt. Dagegen wendete sich der Beklagte mit der sofortigen Beschwerde. (Achtung Sonderfall und 18-Punkte-Frage im zweiten Staatsexamen: Gegen Zwischenurteile ist die sofortige Beschwerde gem. §§ 567 ff. ZPO statthaft - eine wichtige Ausnahme von der Regel, dass gegen Urteile die Berufung und gegen Beschlüsse die (sofortige) Beschwerde statthaft ist.) Das Landesarbeitsgericht war hingegen davon ausgegangen, dass der Zeuge in seinem späteren Fall zur Wahrheit verpflichtet sei und sich deshalb ein Konflikt zu seiner Wahrheitspflicht als Zeuge nicht ergeben könne.
Entscheidung
Das BAG hat sich der Auffassung des LAG angeschlossen:

„1. Nach § 384 Nr. 1 ZPO besteht ein Zeugnisverweigerungsrecht über Fragen, deren Beantwortung u.a. dem Zeugen einen unmittelbaren vermögensrechtlichen Schaden verursachen würde. Der vermögensrechtliche Schaden für den Zeugen muss eine unmittelbare Folge der Beantwortung der Frage sein (…). Ein unmittelbarer Schaden droht, wenn die Beantwortung einer Frage die tatsächlichen Voraussetzungen für eine Haftung des Zeugen als Schuldner, Mitschuldner, Bürge, Regressschuldner etc. begründet oder die Durchsetzung einer schon bestehenden Verpflichtung durch das Beweismittel der Aussage erleichtert werden könnte (…).

Der durch § 384 Nr. 1 ZPO vermittelte Schutz vor den nachteiligen Folgen einer wahrheitsgemäßen Aussage schließt ein Zeugnisverweigerungsrecht auch dann nicht von vornherein aus, wenn durch die Aussage die Durchsetzung eines eigenen Anspruchs des Zeugen erschwert werden könnte. Dies kann insbesondere in Betracht kommen, wenn der Zeuge durch seine Aussage dem Anspruchsgegner bisher unbekannte und von diesem vorzubringende rechtshindernde oder rechtsvernichtende Einwendungen offenbaren müsste. (…)

3. Die drohende Nichtrealisierung einer – ungeachtet des Vorliegens rechtshindernder oder rechtsvernichtender Einwendungen – ihren Anspruchsvoraussetzungen nach bereits nicht bestehenden Forderung kommt demgegenüber nicht als ein vermögensrechtlicher Schaden in Betracht, der mit einer Zeugenaussage unmittelbar i.S.v. § 384 Nr. 1 ZPO in Zusammenhang steht. Das Zeugnisverweigerungsrecht des § 384 Nr. 1 ZPO schließt die grundsätzliche Verpflichtung zur Zeugenaussage nicht hinsichtlich solcher Angaben aus, die der Zeuge in einem späteren Rechtsstreit in Erfüllung seiner Darlegungslast von sich aus wahrheitsgemäß (§ 138 Abs. 1 ZPO) vortragen müsste. Entsprechendes gilt für Umstände, deren Vorliegen die Gegenseite behauptet und zu denen sich der Zeuge bei entsprechendem Vortrag im Prozess gemäß § 138 Abs. 2 ZPO erklären müsste.

In diesen Fällen ist nicht die Zeugenaussage unmittelbar kausal für die erschwerte Durchsetzung der Forderung, sondern die allgemein zu beachtenden gesetzlichen Bestimmungen über die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast im Zivilprozess.

4. Gemessen daran droht dem drittbeteiligten Zeugen durch die Beantwortung der Frage, ob er Herrn H in das elektronische Mitgliederverzeichnis aufgenommen habe, kein unmittelbarer vermögensrechtlicher Schaden. Seine Aussage kann die Durchsetzung eines berechtigten Anspruchs nicht erschweren. (...) Der Beklagte geht unabhängig von einer Aussage des drittbeteiligten Zeugen bereits heute davon aus, dass dieser an der behaupteten Manipulation beteiligt war. (…) Beruft sich der Beklagte als Kündigungsgrund auf eine (direkte oder indirekte) Manipulation des Mitgliederverzeichnisses durch den drittbeteiligten Zeugen, hat sich dieser gemäß § 138 Abs. 2 ZPO hierzu vollständig und insbesondere wahrheitsgemäß zu erklären.“

Anmerkung
Wie schon eingangs gesagt: Bei Berücksichtigung von § 138 Abs. 1 und 2 ZPO eigentlich nichts Überraschendes. Wichtig ist, dass diese Grundsätze entsprechend auch für einen späteren Passivprozess gegen einen Zeugen gelten. Wird also beispielsweise nur einer von mehreren Schädigern in Anspruch genommen, sind die weiteren Schädiger in diesem Prozess als Zeugen nicht zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigt (wenn ihnen nicht ein Zeugnisverweigerungsrecht gem. § 384 Nr. 2 ZPO wegen einer ggf. zu offenbarenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit zusteht). Denn auch dann müssten sich die Zeugen in einem Folgeprozess zu den anspruchsbegründenden Tatsachen wahrheitsgemäß erklären,wenn sie selbst beklagte Partei sind. Zum Verhältnis von prozessualer Wahrheitspflicht und Selbstbelastungsfreiheit s. ausführlich auch hier. Vielen Dank übrigens an Rechtsanwalt Lars Ritterhoff, der mich auf die Entscheidung aufmerksam gemacht hat. tl;dr: Einem Zeugen steht kein Zeugnisverweigerungsrecht gem. § 384 Ziff. 1 ZPO zu, soweit er in einem späteren Aktiv- oder Passivprozess gem. § 138 Abs. 1 oder 2 ZPO zu wahrheitsgemäßen Angaben verpflichtet wäre.  Anmerkung/Besprechung, BAG, Urteil vom 02.08.2017 – 9 AZB 39/17. Foto: Foto: TomKidd | Bundesarbeitsgericht | CC BY-SA 3.0